Hart wie Kruppstahl -
Angststörungen einer Männergeneration von Jugendsoldaten

Bloß nicht einschlafen, sonst kommt der Tod

Viele alte Menschen kämpfen dagegen an, einzuschlafen. Auch für Herrn R. war das „ganz normal“: Er wollte nicht einschlafen. Es saß im Fernsehzimmer des Heimes und ihm fielen die Augen zu. Doch jedes Mal, wenn er einnickte, schreckte er hoch und riss die Augen krampfhaft auf. Eine Pflegerin des Hauses berichtete, dass er abends alles Mögliche unternahm, um den Zeitpunkt hinauszuzögern, ins Bett zu gehen: „Wie ein kleines Kind“. Doch wenn man genau hinsah, wie erschrocken sein Gesicht wirkte, wenn er gegen den Schlaf kämpfte, lag ein weniger harmloser Vergleich nahe.

„In welchem Jahr sind Sie geboren?“

„Ich bin Jahrgang 1928. Bin gerade 80 geworden. Ein guter Jahrgang, hart wie Kruppstahl!“, antwortete er stolz.

„Sie waren in der Hitlerjugend?“ (dieser Spruch war die Parole der Hitlerjugend).

„Ja“, meinte er, „und dann das volle Programm.“

Das „volle Programm“ bedeutete: Mit 16 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, Kampfeinsätze in Italien, dann zum „Endkampf“ an die Ostfront und drei Jahre russische Kriegsgefangenschaft. „Ich war noch einigermaßen kräftig und gesund, deswegen musste ich solange bleiben.“

Ob er oft Wache stehen musste?

„Oh ja. Oft,  ich war ja immer einer jüngsten. Egal, ob man müde war oder nicht - man musste die Augen aufhalten. Sonst konnte man erschossen werden; und man musste ja auch auf die Kameraden aufpassen. Das war schon hart.“

Herr R. war immer noch, 63 Jahre nach Kriegsende, darauf programmiert, die „Augen aufzuhalten“. Einschlafen war gefährlich, lebensgefährlich.

Doch nicht nur solche Situationen des Wache-Stehens im Krieg bedeuteten Kampf gegen das Einschlafen, auch viele andere Situationen für Soldaten wie für Zivilisten, für Ältere wie für Junge gab es, die es notwendig machten, gegen den Schlag zu kämpfen. Herr R. erzählt eine davon:

„Im Lager (während der Kriegsgefangenschaft) war es manchmal so kalt, dass wir nicht einschlafen durften. Wir mussten stehen und uns bewegen. Wer hinfiel und einschlief, war am nächsten Morgen tot.“

Auch für viele Flüchtlinge und Vertriebene galt, dass Einschlafen verboten war. Wer einschlief, konnte erfrieren, konnte als Kind vom Wagen fallen, konnte den Anschluss verpassen und dergleichen mehr. Für viele Kinder und Frauen kamen die Gefahren der Dunkelheit und die Angst vor Vergewaltigung hinzu. Auch das kann wach halten, manchmal ein Leben lang. Wegen des Bombenalarms schliefen viele Menschen in „Hab-Acht-Stellung“, wie in einem Buch über den Bombenkrieg eine Frau beschrieb:

„Ich schlief halb auf dem Rücken, damit das rechte Ohr vollkommen frei war. Ich habe auch im Schlaf immer ein Horchgefühl in mir gehabt.“

Hinzu kommt, dass traumatische Erfahrungen bei vielen Menschen die Grunderregung erhöhen, was ebenfalls das Schlafverhalten beieinträchtigen kann.