Spuren und Verhärtungen der Not -
Erbschaften eines Lebens und Nachwirkungen auf die folgenden Generationen

Hunger

Als Frau A. ins Krankenhaus muss, geht ihre Tochter in deren Wohnung, um sie zu putzen und aufzuräumen. Äußerlich hat die Mutter in ihren zwei Zimmern Ordnung gehalten. Doch als die Tochter hinter die Oberfläche schaut und zum Beispiel die Schränke öffnet, entdeckt sie bizarre Vorratslager: Im Strumpffach findet sie drei Paar Socken, aber auch hunderte von Zuckertütchen, wie sie in Cafés oder Restaurants zum Kaffee oder Tee gereicht werden. Im Kleiderschrank sind hinter den Kleidern mehrere Lagen Mehlpakete gestapelt, deren Verfallsdatum schon weit überschritten ist. Und so geht es weiter. Unter dem Kopfkissen findet sie Reste angebissener Brote, die schon verschimmelt sind, obwohl die Mutter erst vor zwei Tagen die Wohnung verlassen hat. Im Badezimmer finden sich im Medikamentenschrank nur wenige Medikamente, aber fast 50 Stück unterschiedlicher Seifen. Als die Tochter ihre Mutter zur Rede stellt und nachfragt, reagiert diese verwirrt und versteht die Fragen ihrer Tochter nicht. Für sie sind diese Vorräte selbstverständlich. Die Tochter macht sich Sorgen um ihre Mutter und denkt: „Jetzt fängt sie an zu spinnen!“ Ihre einzige Erklärung ist, dass die Mutter vergessen hat, dass sie dort Dinge hingelegt hat, und vermutet Demenz.

Die Erklärung für das Verhalten der Mutter ist einfach: Sie hat während des Krieges und in der Nachkriegszeit gehungert. Hunger kann eine existenzielle Bedrohung sein und er war es für viele Menschen in dieser Zeit.

Wenn Menschen lebensbedrohlich hungern, dann prägt sich dies in ihrem Unterbewusstsein ein, ihr ganzes leibliches Sein kann davon erfasst werden. Und das hat Folgen. Der ganze Organismus ist darauf eingestellt, niemals wieder in eine Hungersituation zu geraten. Jedes noch so leichte Hungergefühl kann dann dazu führen, dass Vorräte angelegt werden, um erneutem Hunger vorzubeugen. Ist ein Mensch, der Hunger erlitten hat, satt und kann zum Beispiel ein Brot nicht mehr aufessen, so wird er es in der Regel nicht wegwerfen können, denn Nahrungsmittel sind kostbar, sind lebens- und überlebensnotwendig. Also wird das angebissene Brot dort aufgehoben, wo man es vielleicht am nächsten Tag wiederfindet (unter der Bettdecke) oder dort versteckt, wo niemand anders es vermeintlich finden kann (zum Beispiel im Kleiderschrank unter den Handtüchern).