Gibt es eine Erklärung für dieses Verhalten?

Frau F. lebt seit zwei Jahren bei uns in einem Heim für Menschen mit schwerer dementieller Erkrankung. Sie kann sich nicht mehr selbstständig waschen. Wenn die Pflegekraft ihr bei der Wäsche – und insbesondere bei der Intimwäsche - helfen möchte, verkrampft sie sich, hält das Nachthemd fest und fängt an zu weinen. Sie schreit immer wieder laut „Nein“ und wirkt geradezu panisch. Weil wir uns dieses Verhalten nicht erklären konnten, haben wir mit der Tochter der Bewohnerin darüber gesprochen. Sie berichtet, dass ihre Mutter immer wieder erzählt habe, ihr Vater habe ihr Schlimmes angetan. Die Tochter erinnert sich auch, dass sie selbst als Kind nie alleine mit dem Großvater sein durfte. Frau F. sagte jedoch nie konkret, was vorgefallen war und führte bis zum Einzug in das Pflegeheim „ein ganz normales Leben“ – wie es ihre Tochter ausdrückte. Kann es sein, dass Frau F. von ihrem Vater missbraucht wurde? Und wenn ja, was können wir tun? Frau F. muss ja schließlich gewaschen werden.

Das Wichtigste zuerst: verstehen wollen, nachforschen

Es kann sein, dass Frau F. von ihrem Vater missbraucht wurde. Eine aktuelle europaweite Untersuchung hat gezeigt, dass jede dritte Frau in ihrem Leben sexualisierte und/oder körperliche Gewalt erleben musste. Frau F. hat in ihrem Leben vermutlich Strategien entwickelt, um mit den traumatischen Erfahrungen umzugehen. Im Alter kann es jedoch dazu kommen, dass diese nicht mehr greifen, wenn es z.B. durch den Umzug in ein Pflegeheim und dem damit verbundenen Verlust der gewohnten Umgebung zu Ängsten, Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit kommt. Genau diese Gefühle traten vermutlich auch in der früheren Missbrauchssituation auf. Die (notwendige) erneute Grenzüberschreitung im Rahmen der Intimpflege kann dafür sorgen, dass Frau F. sich wieder genauso fühlt, wie in der zurückliegenden traumatischen Situation und panisch und ängstlich wird.

Der erste, sehr sinnvolle Schritt wurde hier bereits getan: Die Pflegekräfte haben sich bei der Tochter erkundigt, ob sie eine Erklärung für das Verhalten der Mutter hat. Das Erforschen der Biographie kann sehr hilfreich sein, um Bewohnerinnen und Bewohner besser zu verstehen und ihnen adäquate Hilfe zu bieten.

Mit Empathie und System handeln

Es macht auch Sinn, sich zusammen im Team mit Lösungen zu beschäftigen, damit nicht jedes Teammitglied einzeln für sich einen Umgang mit der Situation finden muss. Wir kennen Frau F. nicht und das Finden von Lösungen muss natürlich individuell auf die sie abgestimmt werden, also hier lediglich ein paar Ideen und Anregungen:

  • Es könnte einen Unterschied machen, ob eine männliche oder weibliche Pflegekraft die Körperpflege bei Frau F. übernimmt. Vermutlich wäre es besser, wenn nur Pflegerinnen Frau F. betreuen.
  • Es ist sehr wichtig, Frau F. Sicherheit zu vermitteln und ihr bei der Körperpflege Zeit zu geben. Um ihr Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen, könnte sie zum Beispiel den Waschlappen bei der Intimwäsche selbst in die Hand nehmen, während die Pflegeperson lediglich ihre Hand führt. Es könnte auch eine Erleichterung für Frau F. sein, wenn sie, statt komplett entkleidet zu werden, unter dem Nachthemd gewaschen wird.
  • Wenn Frau F. bereits in Panik ist, können Sie Maßnahmen zur Re-Orientierung ergreifen, ihr Zeit lassen, sie trösten oder eventuell den Zeitpunkt der pflegerischen Handlungen variieren.
  • In einem weiteren Gespräch mit der Tochter kann man herausfinden, welche Rituale Frau F. früher bei der Körperpflege hatte: Hat sie geduscht oder lieber gebadet? Gab es einen bestimmten Badetag? Welche Pflegeprodukte hat sie benutzt? Alle diese vertrauten Gewohnheiten können zu einem Gefühl von Sicherheit beitragen.
  • Die Gefühle von Frau F. sollten ernst genommen und nicht in Frage gestellt oder „heruntergespielt“ werden. Auch wenn es in der Wahrnehmung der Pflegekräfte vermeintlich keinen Anlass für Angst oder Panik gibt, können bei Frau F. durch pflegerische Handlungen alte, zurückliegende Erfahrungen reaktiviert werden. Für sie fühlt sich die aktuelle Situation dann wieder genauso an wie früher - und sie erlebt dieselben extremen körperlichen Reaktionen wie damals. Wir nennen dieses Phänomen "Leibgedächtnis" und wissen, dass es stärker und unmittelbarer sein kann als unsere bewussten Erinnerungen.
  • Frau F. ist, wie zuvor beschrieben, schwer dementiell erkrankt. Die Möglichkeiten über Gespräche oder weitere externe Hilfe das frühe Trauma in ihrem Leben aufzugreifen, sind damit vermutlich sehr begrenzt. In anderen Fällen aber ist auch zu prüfen ob es im Pflegeteam eine Vertrauensperson gibt, zu der eine tragfähige Beziehung besteht? Diese Vertrauensperson könnte Gesprächsbereitschaft signalisieren oder bei Bedarf auch an andere Personen weitervermitteln (Pfarrerin, Psychotherapeutin…)

Fazit: Bereits durch kleine (pflegerische) Maßnahmen kann es also sowohl zu einer Verbesserung der Situation für Frau F. als auch für die Pfleger/innen kommen. Die Fachkräfte sollen dabei keine Traumatherapie durchführen. Dazu braucht es besonders geschulte Expert/innen. Aber sie können die Gefühle von Frau F. ernst nehmen, ihr Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Sicherheit ermöglichen und somit verhindern, dass das frühe Trauma reaktiviert wird.

Vertiefung: Mit dem Trauma nicht allein bleiben: Grundlegendes zu Beratung und Therapie

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