Thema: Schutz-los?

Glaube, Arbeit, Musik oder Nähe... Menschen, die Traumatisches erlebt haben, kennen ihre ganz persönlichen Kraftquellen im Nachhinein oft recht genau. Wir wollten mehr über deren Bedeutung wissen, verstehen, warum die persönlichen Helfer mit dem Älterwerden manchmal ihre Kraft einbüßen und erkunden, was die alten Mittel heute noch leisten können.

Was ist eigentlich Resilienz?

In der Literatur wird häufig von Widerstandskraft, innerer Stärke oder der Fähigkeit, Krisen gut zu meistern, gesprochen. Manche zeichnen auch das Bild eines „psychischen Immunsystems“, das schädliche Einflüsse erfolgreich abwehrt. Doch vor einem typischen Missverständnis sei hier gewarnt: Resilienz mit persönlicher Stärke gleich zu setzen, kann leicht in die falsche Richtung führen. Resilienz meint nicht eine Charaktereigenschaft, die ein Mensch hat oder nicht hat. Wer sie nicht besitzt, wäre somit unfähig oder gar - mangels dieser Abwehrstärke - mit-schuldig daran, dass er oder sie dem Leiden schutz-los ausgeliefert ist. In unserem Projekt beschreiben wir das Phänomen Resilienz daher ohne solche impliziten Wertungen vorzunehmen. Es geht rein deskriptiv um die Frage, was einem Menschen hilfreich war - nicht darum, welche Strategien besser oder weniger wirksam sind.

Resilienz kann sich aus sehr unterschiedlichen Quellen entwickeln: durch Menschen, die Kraft gegeben haben; durch Dinge, die wie ein Talisman Schutzfunktion übernommen haben oder durch Tätigkeiten, die herausfordern, stärken oder - je nachdem - auch ablenken.

Die "hilfreichen Dinge", von denen Menschen berichten, können Handlungsoptionen für den Einzelfall bieten und darüber hinaus vielleicht auch anderen Menschen helfen, wenn wir um sie wissen und sie gezielt anderen an die Hand geben.

Resilienz und Alter

Es gibt zurzeit keine Untersuchungen darüber, welche Resilienzen und Bewältigungsstrategien insbesondere alten Menschen geholfen haben und helfen, mit den Traumafolgen umzugehen.

Das Verbundprojekt „Alter und Trauma“ kann und will das Vertrauensverhältnis, das in der Projektarbeit mit betroffenen alten Menschen aufgebaut wird, für die Durchführung einer qualitativen Studie unter diesem Aspekt nutzen. Im Projekt Alter und Trauma hat Dr. Udo Baer vom Institut für soziale Innovationen (ISI e.V.) die Aufgabe übernommen, im Rahmen der Resilienzstudie zu erfragen und zu deuten: Was hat einem bestimmten Menschen geholfen, traumatischen Schrecken zu überleben und zu bewältigen? Welche individuellen Fähigkeiten und Besonderheiten hatte er oder sie zur Verfügung, die geholfen haben? Gibt es typische Kraftquellen - und wenn ja: Wie kann man sie zum Beispiel in der Arbeit mit älteren Menschen gezielt anfragen oder sogar ggf. zur Stärkung nutzen?

In qualitativen Befragungen traumabetroffener alter Menschen durch das ISI Duisburg wurden narrative Interviews, die sich in der Biografie-Forschung bewährt haben, geführt.

Die folgenden acht Kraftquellen wurden von den Befragten als wichtig und kennzeichnend genannt:

1. Die Hand

Menschen und Nähe ist wichtigste Größe für Resilienz. Die Nähe zur Familie, zu bestimmten Personen oder Helfern, die zur Verfügung gestanden haben, um damit besser klar zu kommen hilft und half vielen über viele Jahre gegen traumatische Erinnerungen.

„Wenn man aus dem Bunker kam, dann wurde immer erst mal geguckt: Steht unser Haus noch? Wenn ich daran denke, spüre ich immer die Hand meiner Oma. Die hielt immer meine Hand. Im Bunker und noch lange danach“, erzählt eine 80jährige. Auch andere antworteten auf die Frage, was ihnen Kraft gegeben hat, mit dem Hinweis auf andere Menschen: „Das war immer wieder mein Mann. Wir haben uns Gott sei Dank sehr gut verstanden.“

Gehalten und unterstützt werden hilft und stärkt fraglos, solange das soziale Umfeld stabil und zuverlässig ist. Wenn im Alter sinnbildlich die Kreise kleiner werden, bleiben zwar die Erinnerungen an erlebte Nähe und die früheren Bindungen. Dennoch kann Einsamkeit oder soziale Isolation im Alter ein grundsätzliches Risiko für die psychischen Widerstandskräfte darstellen.

2. Reden hilft

Schwere Zeiten und Erlebnisse kann kaum ein Mensch auf Dauer nur mit sich selbst ausmachen. Doch einer Generation, die sich in der Nachkriegszeit fast kollektiv auf ein Schweigen über den erlebten Schrecken geeinigt hat, fehlen vielfach die Worte und nicht selten im Alter auch die Gesprächspartner.

Herr G. erzählt, dass immer wieder einmal die alten Ängste hochkommen, vor allem nachts. Das sei erst in der letzten Zeit so. Auf die Frage, was half und was hilft, antwortet er: „Ich habe geredet, da musste was raus aus meinem Kopf. Oder ich habe es aufgeschrieben, Hauptsache raus.“ Und dann: „Früher, mein Bruder und so, als die noch da waren, so habe ich mich schon unterhalten, jetzt ist das ja nicht mehr!“

Dass im hohen Alter die alten Schrecken wieder lebendig werden, ist hier erkennbar auch Folge zunehmender Vereinsamung. Die früheren Gesprächspartner sind verstorben, und Selbstgespräche allein helfen nicht. Herr G. fand eine Mitarbeiterin in der Pflegeeinrichtung, die ihm anbot, mit ihm zu reden, wann immer er wolle. Das half und hilft. (Vergleiche dazu "Das Trauma ansprechen: Ja oder nein?" in diesem Newsletter)

3. Die Natur

Ursprüngliche, körperlich-sinnliche Erfahrungen machen, nicht abgelenkt sein, Wind und Wetter spüren: Menschen schöpfen unmittelbar Kraft aus der Begegnung mit der Natur. „Wenn ich Kummer hatte, bin ich hier in die Felder gegangen und bin stundenlang gelaufen. Das hat mich getröstet“, sagt eine der Befragten. Eine andere Frau erzählt von der Gartenarbeit: „Oft konnte ich nicht mehr, da wusste ich nicht mehr weiter. Es war alles zu viel, zu schwer. Da bin ich in den Garten gegangen. Jetzt kann ich das nicht mehr, jetzt schaue ich nur noch raus. Aber manchmal schiebt jemand mein Bett raus. Die Blumen, die Sträucher, die Bäume, die geben mir Halt. Mehr als die Menschen.“

Im Alter schrumpft auch der tägliche Radius rapide. Von der einst hilfreichen selbstbestimmten Naturerfahrung bleibt vielleicht noch der ritualisierte Gang um den Block. Auf engem Raum unterwegs, ist die hilfreiche Kraftquelle Natur kaum noch nutzbar. Hier sind kluge Begleiter gefragt, die hinhören und herausfinden, was genau in Bezug auf die Natur für einen Menschen stabilisierend war. Dann kann es eventuell in anderer Form angeboten werden, wenn es zu Fuß nicht mehr geht - Dinge selektieren, die nicht mehr möglich sind und das optimieren, was noch geht.

Grundsätzlich können solche bekannten Resilienz-Faktoren genutzt werden, indem man dem Menschen wieder (mehr) Kontrolle über die befürchtete Situation gibt und ihre Selbstwirksamkeit stärkt.

4. Eine Aufgabe

Schöpferisch sein, Selbstwirksamkeit spüren, sich als sinnvoll erfahren zu können - das alles sind protektive Faktoren in der Traumaverarbeitung. Sie tragen oft, solange die Wertschätzung im Beruf, Familie oder Ehrenamt in den aktiven Jahren gegeben ist. Ablenkung, tätig werden, gebraucht werden, auf andere Gedanken kommen - diese Kraftquellen stehen im Alter oft nur noch eingeschränkt zur Verfügung.

Umso mehr wissen die Befragten in den narrativen Interviews von der Bedeutung einer Aufgabe für die Bewältigung gewaltvoller Erfahrungen im eigenen Leben zu berichten: „Ich habe gar keine Zeit gehabt, mich damit zu beschäftigen. Wir hatten die Nase voll von dem ganzen Dreck. Und wir mussten ja was tun.“ Das Überleben war wichtig und notwendig in den ersten Jahren der Nachkriegszeit und oft noch lange danach. Später kamen mit den Kindern und Enkeln neue Aufgaben in der Familie und im Beruf. Das lenkte nicht nur ab, das gab auch Sinn.

Eine Frau erzählt, wie sie als junge Frau den elterlichen Hof in Schlesien verließ und nach Skandinavien kam in ein Internierungslager. Dort arbeitete sie als Kinderschwester: „Und wir wurden ja auch alle beschäftigt. Natürlich war Heimweh da. Wir hatten eine Landwirtschaft, nicht, wir haben gejammert, was wird aus dem Vieh! Wer versorgt das? Das war der erste Kummer, aber wir konnten es nicht ändern, wir haben uns da eingefügt in die neue Aufgabe.“

5. Musik

Musik, auch Kunst, ist für viele Mittel und Möglichkeit, den eigenen Emotionen Ausdruck zu geben, sich schöpferisch selbst zu trösten: „Als wir über die Oder drüber sind, war das sehr traurig, weil da die ganzen alten Bauernfrauen drin waren und Kinder, sonst niemand. Die haben dann angefangen diese alten schlesischen Lieder zu singen. „Blaue Berge, grüne Täler“ oder „Ist Feierabend“ und wie diese Lieder alle heißen. Statt zu weinen, haben die gesungen. Das hat mich tief beeindruckt. Und so habe ich später auch viel gesungen, wenn ich traurig war. Und auch sonst.“

Viele der Befragten bestätigen: Malen, dichten, musizieren hilft, den Kummer auszudrücken, ihn mit anderen Menschen zu teilen und so zu verringern oder loszuwerden. „Wenn ich Kummer hatte, habe ich mich in meinem Schrank eingesperrt, die Türe zugemacht und meine Flöte genommen. Ich war damals noch sehr dünn.“

Wenn solche eingeübten Wege bekannt sind oder sich im Gespräch als hilfreich herausstellen, hat man in der Begleitung älteren Menschen eine gute Möglichkeit Symptome des wiederkehrenden Traumas abzumildern oder Deprivation zu verhindern. Singen oder ein Instrument spielen kann befreien, das dumpfe Gefühl aufheben, Zuflucht bieten oder einfach Spaß machen und ablenken. Kunst bietet hier weitere Möglichkeiten. In der aktuellen Ausstellung Trost 45 entstanden aus bedeutsamen persönlichen Gegenständen, aus Fotos und Zeichnungen im Rahmen einer Gruppenarbeit neue Kunstwerke, Bilder und Collagen. (Siehe dazu: „Tipps & Termine/ Trost 45" in diesem Newsletter)

6. Der Glaube

Der Glaube steht als tragende Kraftquelle bei vielen der heute alten Menschen für: Sinngebung, Halt, verlässlichen Boden, Zuspruch durch höhere Mächte, nicht allein sein, eine starke Kraft an seiner Seite zu haben. „Ja, es hat mir der Glaube geholfen.“ - das erwähnen viele. Wenn die eigene Kraft nicht reicht, kann es helfen, die Kraft im Glauben zu suchen und zu finden. „Ich habe nie so viel gebetet wie im Krieg, nicht wahr. Das hat sich gehalten. Wenn es mir dreckig ging, half das Beten.“

Auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft der Gläubigen gab Kraft und Zuversicht. „Ich war nie ein großer Kirchgänger. Auch als Kind hatte ich eher Angst vor dem Pfarrer. Als wir aber 1947 bei einem Gottesdienst in einer Kirchenruine waren, mit freiem Himmel über uns, da spürte ich, dass es den andern auch so ging wie mir. Das hat mich beflügelt. Später ging mir das dann so bei den Kirchentagen.“

In der Begleitung traumatisierter älterer Menschen lohnt es zu überlegen, wie man dafür sorgen kann, dass all das weiterhin zur Verfügung steht. Wo wird der schützende Beistand, den der Glaube vielen bietet, am besten greifbar: Gebete? Devotionalien? Gesang? Wie können die Anker erhalten bleiben, auch wenn die (jünger werdende) Umgebung weniger Bezug hat? Auch eigene Routinen (bezüglich der religiösen Feiertage) dürfen hier auf den Prüfstand.

7. Sport

Bewegung, körperliches Ausagieren ist das Synonym für das Spüren von Kräften. Innere und äußere Unruhe kommen wieder in Balance, physiologisch geht es um Spannungsreduktion - Sport ist geradezu ein klassisches Hilfsmittel bei erhöhter Erregbarkeit, die sich einstellt, wenn besondere Belastungen spürbar werden. Traumaopfer haben nicht selten einen dauerhaft erhöhten Blutdruck, ausgelöst durch erhöhte psychische Spannung. Sport hilft, sie abzubauen und sich eine gute Müdigkeit zu erarbeiten.

Die Befragten wissen das nur zu gut: „Ich muss ehrlich sagen, ich kann mich überhaupt nicht an irgendeinen Kummer erinnern. Ich habe gar keinen Kummer gehabt! Weil ich mir gar keinen Kummer gemacht habe.“, sagt eine Frau und auf die Frage: „Wie schafft man so etwas?“, antwortet sie: „Ich war Sportlerin. Eine mehr als durchtrainierte Schwimmerin. Und dann habe ich im Wasser Ballett geschwommen, da war ich drei oder fünf Jahre, weiß ich nicht mehr, war ich da drin. Da hat man alles vergessen, was um einen rum war, was einen vielleicht hätte aufregen können.“

8. Das Stopp

Manche Menschen werden durch die schlimmen Trauma-Erfahrungen „immer kleiner“. Es gibt auch Beispiele, bei denen Menschen sich aufrichteten und „größer wurden“. Für sie scheint es wichtig gewesen zu sein, dass sie „Nein“ und Stopp“ sagen konnten. Ein Beispiel dafür ist diese Frau: „Ich kann mich anpassen, ich kann aber auch den Mund aufmachen, wenn es mir nicht passt. Da kann ich auch mal frech sein.“ Und sie fährt fort: „Also ich stecke nicht alles weg. Ich kann auch mal sagen: Halt! Stopp! Also so nicht! Mit mir nicht! Was sein muss, muss sein, nicht wahr?“

Der Zorn über Ungerechtigkeiten, die Empörung über das, was Menschen angetan wird, ist eine Kraftquelle, eine Hilfe bei der Bewältigung schlimmer Erfahrungen. Im Wort „Empörung“ steckt das „Aufrichten“: „empor“ bedeutet „hoch“ oder „oben“. Sich zu empören unterstützt Aufrichten und Aufrichtigkeit. „Nein!“ oder „Stopp!“ sagen zu können, ist Ausdruck von Selbstwirksamkeit und eine individuelle Möglichkeit (im Sinne von Resilienz), die Menschen helfen kann (auch wenn es schwer war) einigermaßen auf Kurs zu bleiben. Diese Strategie hilft die Opferrolle zu durchbrechen, indem man aktiv wird und sich das Recht nimmt, Grenzen zu setzen.

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