Genauer hinsehen!

Wenn Herr Schneiders vom Krieg erzählt – und das macht er gern und oft – erstarrt Frau Meier. Sie sitzt dann regungslos da, scheint kaum noch zu atmen und hat starre, weit geöffnete Augen. Nach einigen Minuten schaut sie hoch, schüttelt sich und steht langsam auf. Dann verlässt Frau Meier mit ihrem Rollator langsam, aber zielstrebig und konsequent den Raum. Als der junge Mann vom Bundesfreiwilligendienst zum ersten Mal ihr Zimmer betritt, um sie zum Kaffeetrinken abzuholen, erschreckt sie und beginnt zu rufen: „Nein, nein, nein!“. Nur die Mitarbeiterin Frau Kovic, die sie sehr mag, kann sie beruhigen.

Zu der großen Unruhe kommt Frau Meiers panische Angst vor dem Dunklen. Sie schläft immer mit einem kleinen Licht und verlässt am Abend nie das Haus. An Ausflügen, bei denen man erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückkommt, nimmt sie nicht teil.

In ihrer Einrichtung wird das Verhalten insgesamt als Ausdruck ihrer Verwirrung, ihrer Alzheimer-Demenz eingeordnet. Vermutlich ist Frau Meier – auch - dement. Ihr Verhalten deutet allerdings darauf hin, dass sie darüber hinaus unter den Folgen von kriegstraumatischen Erfahrungen einschließlich sexueller Gewalt leidet.

Kriegskindheit – die Erfahrung einer ganzen Generation

Das Erstarren, wenn vom Krieg erzählt wird oder Kriegsberichte im Fernsehen kommen, ist eine typische Reaktion von Menschen, die im Krieg Schlimmes erlebt haben. Frau Meier ist 84 Jahre alt. Sie war bei Kriegsende 15 Jahre alt und lebte damals im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Flucht, Bomben und Kämpfe hat sie erlebt und überlebt. Wenn diese Erfahrungen durch Erzählungen und Berichte wieder „angetriggert“ werden, wird das traumatische Erleben wieder lebendig. Dass sich Frau Meier aus der Erstarrung aufraffen kann, sich zu erheben und den Raum zu verlassen, ist eher die Ausnahme. Die meisten alten Menschen, die Ähnliches erleben, bleiben in der Erstarrung gefangen, bis sie angesprochen werden.

Auch die ängstlichen Reaktionen auf Dunkelheit und auf den jungen Mann sprechen dafür, dass Frau Meier in der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit oder später etwas Schlimmes widerfahren ist. Die Angehörigen wissen es nicht und sie redet nicht darüber. Doch ihr Körper, ihr Verhalten redet und erzählt, dass Dunkelheit und unbekannte junge Männer bei ihr große Angst auslösen. Vieles spricht somit dafür, dass Frau Meier auch unter den Folgen traumatischer Erfahrungen leidet.

Demenz ist heute ein anerkannt relevantes Thema in der Altenhilfe. Das darf aber nicht dazu führen, dass jedes verstörende Verhalten alter Menschen der Demenz zugeschrieben wird. Wahrscheinlich ist Frau Meier dement – auch. Sicher wird das nur die weitere Entwicklung zeigen, denn die Alzheimer-Demenz ist eine Ausschlussdiagnose.

Die Abgrenzung zu einem traumatischen Erleben, das im Alter reaktiviert werden kann, ist nicht leicht, denn manche Symptome der Demenz ähneln denen der Traumafolgen. Dazu gehören unter anderem:

  • das Verstört-Sein
  • die Unruhe
  • die Ängste und Verunsicherungen
  • das Vermeidungsverhalten
  • die Scham.

Der große Unterschied ist der Schrecken, der in der Re-Traumatisierung wieder lebendig wird. Manche alte Menschen zeigen ihn in aggressiver Vorwärts-Verteidigung, andere fliehen in Panik oder versuchen es zumindest, viele erstarren.

Warum es so wichtig ist Traumafolgen von Demenzsymptomen zu unterscheiden:

  • Die Menschen müssen in ihrem Erleben gewürdigt werden und sollten sich verstanden fühlen: „Ich sehe, dass es Ihnen nicht gut geht/dass sie erschrocken sind/dass Sie Panik haben ...“
  • Man muss ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind, dass jemand an ihrer Seite ist und sie schützt – anders als damals, als sie allein waren oder alles allein tragen mussten.
  • Menschen mit Demenz brauchen sinnlich-biografische Angebote, um ihr Gedächtnis des Erlebens zu aktivieren und damit das kognitive Gedächtnis zu unterstützen. Bei Menschen mit kriegstraumatischen Erfahrungen können solche Anregungen Angst machen und den traumatischen Schrecken wiederbeleben. Darauf sollten die Begleitenden eingestellt sein: Biografiearbeit kann die Symptomatik verstärken. In jedem Fall gilt, bei biografischen Angeboten besonders achtsam zu sein.

Perspektivwechsel: „Fehleinschätzungen sind fatal“

Interview mit Nina Lauterbach-Dannenberg, Landesverband der Alzheimer-Gesellschaften NRW e.V., über die notwendige Sensibilisierung für das Erkennen von Traumata.

Re-Traumatisierungen werden nicht selten in der Diagnostik fälschlicherweise für Symptome von Demenz gehalten. Wie wird dieses Thema im Landesverband und in den Alzheimer Gesellschaften NRW gesehen?

Nina Lauterbach-Dannenberg: Das Thema „Diagnostik“ ist generell ein sehr wichtiges Thema, wenn wir über eine gute Versorgung für Betroffene und ihre Angehörigen sprechen. Es geht zunächst darum herauszufinden, ob überhaupt eine Demenz vorliegt. Dabei schließt ein gut ausgebildeter Facharzt inzwischen standardmäßig eine z.B. depressive Erkrankung oder ein Delir aus. Beide Erkrankungen können in ihren Symptomen einer Demenz im Anfangsstadium ähneln. Dafür gibt es spezielle Diagnoseinstrumente. Auch wird durch eine Kombination verschiedener Diagnoseverfahren festgestellt, welche Form der Demenz vorliegt – denn bereits hier sprechen wir von vielen möglichen Formen und Ausprägungen.  Nach einer möglichen Traumatisierung wird nicht standardmäßig geschaut. Dabei wäre wichtig, auch hier entweder eine Abgrenzung zu einer möglichen demenziellen Erkrankung vorzunehmen oder – und das ist noch schwieriger – eine Demenz mit einem gleichzeitig vorliegenden Trauma zu diagnostizieren.

Traumata und Trauma-Reaktivierungen äußern sich auf ganz unterschiedliche Arten: Umherwandern, Erstarren, Einigeln, aggressives Verhalten oder extremer Rückzug. Genauso eine Demenz. Wir müssen sehr genau hinsehen und uns mit den Menschen beschäftigen, sie vor allem wahr- und ernst nehmen. Mit einer Traumatisierung umzugehen ist für die Betroffenen äußerst schwierig, besonders bei gleichzeitiger Demenz. Da stoßen Worte an Grenzen, Betroffene verlieren ihren Rest eines kognitiven Schutzes. Da hilft am meisten, den Menschen das Gefühl zu geben: Diesmal sind sie nicht allein mit ihrem Schrecken.

Was sind Konsequenzen einer solchen Fehleinschätzung aus der Sicht von Betroffenen und Angehörigen?

Nina Lauterbach-Dannenberg: Es ist ohnehin schon sehr schwierig, als Angehöriger mit den Symptomen einer Demenz umzugehen. Handelt es sich gegebenenfalls um eine Fehleinschätzung, ist das fatal. Möglicherweise werden Medikamente verabreicht, die genau die falschen sind und eher Ängste verschlimmern, als sie zu mildern. Menschen werden vielleicht – natürlich mit der guten Absicht von Pflegenden – mit ihrer Biografie konfrontiert und erleben so unerträgliche Situationen wieder.

Viele sogenannte „Trigger“, also Schlüsselreize, könnten von den Pflegenden vermieden werden, wenn sie um die Bedeutung wüssten: Dunkelheit, ein bestimmtes Essen, der Geruch aus der Suppenküche des Pflegeheims, bestimmte pflegerische Handlungen, vor allem im Intimbereich, möglicherweise sogar freiheitsentziehende Maßnahmen. Die sind natürlich auch für Menschen mit Demenz fatal. Es darf nicht passieren, dass eine 90 jährige Frau mit traumatischen und sexualisierten Gewalterfahrungen in ihrem Bett fixiert wird, weil man meint, es drohe sonst eine Selbstverletzung. Da müssen wir sehr genau hinsehen, die Angehörigen und auch die professionelle Pflege sensibilisieren.

Was raten Sie Angehörigen, die unsicher sind, ob die Diagnose Demenz wirklich ausreicht? Was können sie tun?

Nina Lauterbach-Dannenberg: Angehörige können sich Rat holen. Es gibt inzwischen Fachleute, wenn auch nicht viele, die sich sehr gut mit dem Thema Trauma auskennen. Sie können Ratschläge geben, was man für Betroffene tun kann. Wenn eine gleichzeitige Demenz vorliegt, ist das natürlich noch viel schwieriger und komplexer. Bestimmte Situationen können aber ganz gezielt vermieden und Hilfestellungen systematisch erlernt werden: achtsam sein, Geborgenheit geben, positive (Körper-)gefühle stärken.

Angehörige dürfen sich bei all dem aber auch selbst nicht vergessen. Schließlich werden sie plötzlich mit Ängsten und Geschichte(n) ihrer Eltern oder Großeltern konfrontiert, die vermutlich ein ganzes Leben lang unter dem „Mantel des Schweigens“ lagen. Es strengt an, sich mit den Ängsten der eigenen Eltern und deren Geschichte zu beschäftigen, weil die Pflege und Betreuung an sich belastet und Energie kostet. Und: Es ist auch ein Stück die eigene Geschichte – auch Traumata können „vererbt“ werden. Da ist die Selbsthilfe, aber auch professionelle psychotherapeutische Hilfe, ein möglicher Anker für die Angehörigen. Sie sollten nicht aus falscher Scham oder Angst auf Hilfe verzichten.

TIPP: Telefon Alzheimer NRW 01803 – 88 33 55 * (* 9 Cent aus dem dt. Festnetz) oder 0211-30 26 90 40

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