Therapeutische Hilfe - die Ausnahme von der Regel

Erlebte Gewalt hat immer Folgen. Das belegen u.a. die WHO Studie (2003) sowie die Studie von Peters (2006). Körperliche Symptomatiken, Suchtentwicklung, seelische Beschwerden bis hin zu sozialen Problemen können solche Folgen sein. Es muss somit davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil der älteren und alten Menschen unter lebensgeschichtlichen Erfahrungen leidet und Beeinträchtigungen im Alltag erlebt. Umso erstaunlicher ist es, dass sich diese Fakten nicht in der therapeutischen oder beratenden Praxis widerspiegeln. Studien und Statistiken belegen sogar das Gegenteil: Der Anteil an alten Menschen in der psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung ist sehr gering. Weniger als 1 Prozent der Menschen über 60 Jahren nehmen bspw. eine ambulante Psychotherapie in Anspruch, der Anteil in Beratungsstellen liegt bei ca. 2 Prozent  (Peters, 2006).

Die Ursachen für die seltene Inanspruchnahme von Therapie und Beratung sind vielfältig und spielen auf unterschiedlichen Ebenen eine Rolle:

Leerstellen bei den therapeutischen Profis:

  • Das Thema „Alter und Trauma“ und die Besonderheiten in der Alterspsychotherapie sind bisher eher geringe Bestandteile in Therapie- und Beratungsausbildungen. Demnach halten nur wenige niedergelassene PsychotherapeutInnen und Beratungsstellen spezifische Angebote für ältere Menschen vor.
  • Ab dem Überschreiten einer Altersgrenze von ca. 60 Jahren werden Beschwerden, Probleme und Beeinträchtigungen eher auf biologische Alterungsprozesse zurückgeführt. Die meisten bei älteren Menschen gestellten Diagnosen sind altersspezifisch, wie etwa das große Spektrum der dementiellen Erkrankungen. Etwa 14 Prozent der über 70-jährigen würden aufgrund ihrer Symptome eine solche Diagnose erhalten. Die in Studien am zweithäufigsten festgestellten psychischen Erkrankungen sind Depressionen (bei etwa 9 Prozent der über 70-Jährigen). Auch Angststörungen oder Alkoholabhängigkeiten werden in Studien und Untersuchungen häufig bei der Altersgruppe der Älteren beschrieben.
  • Vom Alterungsprozess unabhängige, aber auf lebensgeschichtliche Erfahrungen zurückzuführende Diagnosen werden dem hingegen eher kaum gestellt: so wird zum Beispiel eine „Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)“  sehr selten diagnostiziert. Forscher, die sich mit Flüchtlingen und Kriegskindheiten auseinandersetzen, fanden jedoch bei der Gruppe der heute alten Menschen eine deutlich höhere Prävalenz für eine PTBS als bei jüngeren Menschen (vgl: Fischer, C.J; Struwe, J.; Lemke, M.R., 2006 / Maercker et al., 2008).

Skepsis der Älteren gegenüber Therapie:

  • Viele ältere Menschen selbst haben eine eher skeptische Haltung zu Psychotherapien oder professionellen Beratungsangeboten, die Inanspruchnahme von spezifischen Hilfsangeboten ist in dieser Generation weitestgehend unüblich. In ihrer Sozialisation und Lebensgeschichte galt meist die Devise „Hart arbeiten und funktionieren“, „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Das Beschäftigen mit persönlichen Problemen galt als Luxus oder wurde als Ausdruck mangelnder Belastungsfähigkeit der Person interpretiert. Ein Sprechen über persönliche (oder gar innerfamiliäre) Probleme war  - wenn überhaupt - innerhalb der Familien verortet.
  • Zudem besteht bei der Inanspruchnahme von Hilfe oftmals eine große Angst, als „verrückt“ abgestempelt oder als ausschließlich schwach und hilflos wahrgenommen zu werden. Diese Ängste und Befürchtungen werden auch durch die Erfahrung gespeist, dass während der Nazizeit Menschen (darunter Verwandte und Nachbarn) mit einer psychischen Erkrankung als „minderwertig“ abgewertet, ausgesondert und zu Tausenden getötet wurden.

Starre Altersbilder in der Gesellschaft:

  • Eine weitere Erklärung für den kleinen Anteil älterer Menschen in psychotherapeutischen Praxen und Beratungsstellen liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit in negativen gesellschaftlichen Altersbildern. Oftmals wird (auch von Fachleuten) alten Menschen eine Entwicklungsfähigkeit abgesprochen. Diese Annahmen spiegeln sich auch in vielen Sprichwörtern wieder: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“, „Alte Bäume lassen sich nicht biegen“ oder „Im Alter nimmt der Starrsinn zu“.
  • Diese eher durch „Stillstand“ geprägten Altersbilder beeinflussen maßgeblich persönliche und professionelle Ansichten, Haltungen und Entscheidungsprozesse. Wenn zum Beispiel eine Ärztin davon ausgeht, dass psychische Beeinträchtigungen im Alter ursächlich an altersbedingten biologischen Veränderungen der Gehirn- und Gedächtnisstrukturen liegen und therapeutisch nicht beeinflussbar sind, wird sie vermutlich eine 70-jährige Frau mit psychischen Problemen nicht an eine/n niedergelassenen Psychotherapeut/in überweisen. Wenn ein/e Psychotherapeut/in denkt, dass Menschen im höheren Lebensalter keine psychischen Veränderungsprozesse durchlaufen können, wird er/sie vermutlich eher jüngeren Klient/innen Therapieplätze anbieten.