Alter und Trauma: lange unterschätzt

Erst seit rund 15 Jahren beschäftigt sich die Fachöffentlichkeit intensiver mit den Folgen von Traumatisierungen im Alter. Seitdem belegen zahlreiche Studien, dass eine große Zahl der heute über 60-Jährigen unter Folgen früher traumatischer Erlebnisse leidet.

Gravierende Folgen im Alter:
die Generation der 60- bis 85-Jährigen

Die Folgen traumatischer Erfahrungen sind unterschiedlich, für viele Menschen aber sehr gravierend. Zur Untersuchung langfristiger Auswirkungen traumatischer Ereignisse auf somatische und psychische Beschwerden wurden 2006 in einer Studie 600 Personen zwischen 60 und 85 Jahren befragt, die im Kontext des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat flüchten mussten (Fischer, Struwe und Lemke, 2006). Bei knapp 10 Prozent der Befragten wurde eine voll ausgeprägte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Die Prävalenz der Befragten lag somit deutlich über der Prävalenzrate der Normalbevölkerung, die in etwa 1 Prozent beträgt. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Studie von Maercker u.a. (2008) über das Vorkommen Posttraumatischer Belastungsstörungen in Deutschland: Bei 3,4 Prozent der Befragten ab 60 Jahren wurde eine voll ausgeprägte PTBS festgestellt. Das Vorkommen war mit diesem Prozentsatz deutlich höher als in anderen Altersgruppen (van Zelst W.H. et al., 2003).

Im Leben älterer Menschen spielen demnach lange zurückreichende Traumatisierungen unterschiedlicher Genese in Kriegs- und Friedenszeiten eine bedeutendere und wichtigere Rolle, als gemeinhin bekannt ist. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der (pflege)fachlichen Diskussion, Ausbildung und Praxis sind Traumatisierungen und (Re-)Traumatisierungsgefahren älterer Menschen (noch) kaum präsent. In der Folge kommt es bei den Betroffenen erstmalig und erneut zu (Hirsch, 2004):

  • länger andauernden Gefühlen der Erniedrigung, Beschämung, Missachtung und Hoffnungslosigkeit bis hin zur Selbstaufgabe
  • zunehmender Isolation, Vereinsamung und Angst vor Dritten
  • pathologischen Trauerreaktionen und Lähmung von Aktivitäten
  • Vermehrung und Chronifizierung von Ängsten und Schuldgefühlen
  • länger andauernden körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen nach massiver körperlicher Gewaltanwendung
  • Auftreten von psychosomatischen Erkrankungen
  • destruktiven Umgangsweisen mit sich selbst bis zum Suizidversuch,
  • Abgleiten in Armut nach finanzieller Ausbeutung und
  • posttraumatischen Belastungsstörungen.

Jahrzehnte des Schweigens: ältere Frauen mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt

Ältere und alte Frauen haben in großer Zahl neben familiärer Gewalt sexualisierte Gewalterfahrungen wie Vergewaltigung oder Zwangsprostitution im Kontext des Zweiten Weltkrieges erlebt. Sexualisierte Gewalt erfahren zu haben ist also kein seltenes Einzelschicksal, sondern Bestandteil der Lebensgeschichten von zahlreichen Mädchen und Frauen. Das Sprechen über Erlebtes fällt den meisten Betroffenen dennoch sehr schwer und ist besonders für ältere und alte Frauen mit zahlreichen Ängsten verbunden. Denn während viele junge Frauen und Frauen mittleren Alters erfahren (haben), dass sexualisierte Gewalt öffentlich thematisiert wird und ihnen Beratungs- und Unterstützungsangebote offen stehen, sind für die Arbeit mit Frauen ab 60 Jahren Projekte notwendig, die sie gezielt ansprechen. Sie schweigen und leiden länger, weil sie

  • ein besonders hohes Schamgefühl empfinden
  • vielfach Übergriffe erlitten haben, auch durch besonders nahe stehende Menschen
  • „gelernt“ und verinnerlicht haben, dass familiäre Probleme ausschließlich innerfamiliär gelöst werden sollten
  • so erzogen und sozialisiert worden sind, dass Sexualität, sexuelle Aufklärung und sexuelle Selbstbestimmung in aller Regel ausgeklammert wurden

Warum erst jetzt?

Aus heutiger Perspektive ist es schwer verständlich, dass die Bedeutung von traumatisierender Gewalt im Lebenslauf und insbesondere im Alter so lange in seiner Bedeutung unterschätzt wurde. Es scheint erklärungsbedürftig, warum wir uns erst jetzt mit den Kriegstraumata der heutigen Altengeneration beschäftigen. Ebenso muss erklärt werden, warum die Folgen sexualisierter Gewalt im Alter unsere Aufmerksamkeit brauchen und die Auseinandersetzung mit diesen Themen berechtigt ist.

Dass die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach erst in den letzten Jahren überhaupt thematisiert wurden, hat mehrere Gründe. Nach 1949 wollte die deutsche Gesellschaft in Ost und (vor allem) West möglichst wenig mit dem Krieg, dem Holocaust und seinen Folgen zu tun haben. Es ging um den Aufbau einer neuen Zukunft und das meiste, das an die Vergangenheit erinnerte, wurde weggeschoben oder gar tabuisiert. Nur der Beharrlichkeit von Menschen wie Simon Wiesenthal oder Fritz Bauer war es zu verdanken, dass es überhaupt 1961 zum Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und 1963 zum ersten  Auschwitz-Prozess in Frankfurt kam. Das ungeheure Ausmaß des Holocaust und die Verbrechen der Wehrmacht ließen es in der Folge auch Jahrzehnte danach in Deutschland kaum möglich erscheinen, sich mit den individuellen Traumata der Täter(-generation) zu beschäftigen. „Die Gnade der späte(re)n Geburt“ der heute alten Menschen macht es vielleicht für alle Beteiligten leichter, Empathie für ihre Traumatisierungen zu entwickeln.

Ein weiterer Grund liegt in dem Trauma-Erleben selbst. Die betroffenen Menschen blieben nach dem traumatischen Schrecken allein und verstummten. Das passte zum öffentlichen Schweigen über die Kriegsfolgen in der Gesellschaft. Möglicherweise hat erst die Generation der Enkel eine solche persönliche Distanz zu den Schrecken des Krieges im Leben ihrer Großeltern, dass diese nun Beachtung finden. Für diejenigen, die damals Erwachsene waren, ist es oft zu spät. Sie sind gestorben oder sehr alt. Doch die Generation der damaligen Kriegskinder, die Generation „70 plus“ lebt. Sie braucht heute Gehör für das Unerhörte.

Auch sexualisierte Gewalt kann Menschen so erschüttern, dass sie – obgleich über Jahre verstummt und scheinbar „gesund“ - im Alter wieder neu traumatisiert werden. Zum Alt-Werden gehört, dass Menschen hilfloser werden und Situationen erleben, in denen sie sich ausgeliefert fühlen - zum Beispiel bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit. Dies kann frühere traumatische Situationen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefert-Seins wiederbeleben. Außerdem lässt die Kraft nach, Erfahrungen des Schreckens beiseite zu schieben, so dass sie mehr und mehr in den Vordergrund treten.

Auch sexuelle Gewalt und ihre Spätfolgen war über viele Jahre kein oder kaum ein Thema. Erst als in den USA bemerkt wurde, dass mehr Vietnamkriegs-Veteranen durch Selbstmord aufgrund von Traumafolgen starben, als im Vietnam-Krieg selbst umgekommen waren, begann man, Traumafolgen als Realität und als Leiden anzuerkennen. Und erst die Frauenbewegung erreichte es, dass das Leiden und die Spätfolgen für Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren mussten, öffentlich wahrgenommen wurde – wenngleich dies lange als reines „Frauenthema“ galt. Erst als in den letzten Jahren die heute erwachsenen Opfer öffentlich anprangerten, welche Gewalterfahrungen Mädchen und Jungen in angesehenen Institutionen wie der Odenwald-Schule und in Jesuiten-Kollegs erlebt hatten, wurde eine breitere Öffentlichkeit aufmerksam. All dies eröffnet Chancen, sich mit den Folgen sexualisierter Gewalt nun auch im Alter zu beschäftigen und das Verstummen und Schweigen zu durchbrechen.

Literaturquellen:

Görgen, Th.; Kreuzer, A.; Nägele, B.; Kotlenga, S. (2002): Erkundung des Bedarfs für ein bundeseinheitlich erreichbares telefonisches Beratungsangebot für ältere Menschen. Bericht an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gießen; online verfügbar unter: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/PRM-23513-Arbeitspapier-telefon.-Beratun,property=pdf.pdf

Fischer, C. J.; Struwe, J.; Lemke, M. R. (2006): Langfristige Auswirkungen traumatischer Ereignisse auf somatische und psychische Beschwerden. Am Beispiel von Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg, in: Der Nervenarzt, Jg. 77, H. 1, S. 58–63

Glaesmer H.; Gunzelmann T.; Brähler E.; Forstmeier S.; Maercker A. (2010): Traumatic experiences and post-traumatic stress disorder among elderly Germans: results of a representative population-based survey. Int Psychogeriatr, 22(4), 661-670

Hirsch, R.D. (2004): Gewalt gegen alte Menschen – aktuelle Traumatisierungen, in: Psychotherapie im Alter, Nr. 3, 1. Jg. (2004), Heft 3, 111 - 122

Maercker, A.; Forstmeier, S.; Wagner, B.; Glaesmer, H.; Brähler, E. (2008): Posttraumatische Belastungsstörungen in Deutschland. Ergebnisse einer gesamtdeutschen epidemiologischen Untersuchung, in: Der Nervenarzt, H. 5, S. 577–586

Radebold, H. (2000): Abwesende Väter und Kriegskindheit. Fortbestehende Folgen in Psychoanalysen, 3. Auflage 2004, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Radebold, H. (2005): Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Ältere Menschen in Beratung, Psychotherapie, Seelsorge und Pflege, 2. Auflage, Klett-Cotta, Stuttgart

Sander, H.; Johr, B. (Hg.) (2005): Befreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder. Neuauflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag

Teegen, F.; Meister, V. (2000): Traumatische Erfahrungen deutscher Flüchtlinge am Ende des II. Weltkrieges und heutige Belastungsstörungen, in: Zeitschrift für Gerontopsychologie & -psychiatrie, Jg. 13, H. 3/4, S. 112–124

van Zelst W.H.; de Beurs E.; Beekman A.T.F.; Deeg D.J.H.; van Dyck R. (2003):
Prevalence and Risk Factors of Posttraumatic Stress Disorder in Older Adults, in: Psychother Psychosom 2003; 72: 333–342