Freiraum für das Erzählen und Erinnern: Die Wertschätzungsgruppe

Mit kreativen Mitteln und mit manchmal alltäglichen Gegenständen kann eine Brücke geschaffen zu prägenden Lebenserinnerungen werden. Die Wertschätzungsgruppe bietet den schützenden Rahmen. Erzählen oder lieber still erinnern? Die alten Menschen entscheiden selbst.

Das mögliche Trauma steht bei dieser Einladung nicht im Vordergrund: Dennoch werden zur Wertschätzungsgruppe vor allem die älteren Menschen eingeladen, auf die vorab geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufmerksam wurden oder von denen sie annehmen, dass ihre Biografie Herausforderungen für das Alter mit sich gebracht haben könnte.

Offen ist die Gruppe außerdem für Menschen, die aus eigenem Antrieb ihre Erinnerungen mitteilen möchten - ganz gleich ob es schöne oder vor allem schwierige Erinnerungen sind. Das Angebot selbst ist offen für beides. Kreativ und assoziativ wird in der Wertschätzungsgruppe zwar das Erinnern angeregt. Doch bestimmen die Teilnehmenden selbst und die Gruppendynamik, wie viel und von wem das Angebot angenommen wird.

Die Bewohner selbst geben Maß und Takt vor

4-8 Doppelstunden stehen zunächst für das Gruppenangebot zur Verfügung. Die alten Menschen sind eingeladen, mit kreativen Mitteln zu erkunden, was sie in ihrem Leben wertschätzen. Nicht: „Woran erinnere ich mich?“ steht im Vordergrund, sondern: „Was mag ich?“ Sinnliche Erfahrungen über Berührungen, Klänge, leichte Bewegungen, Bilder usw. laden ein zu Erinnerungen, guten wie schlechten.

Der Wertschätzungsweg geht von außen nach innen über bereitgelegte Instrumente, Gegenstände, Steine, Muscheln oder Handwerkerzubehör. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden eingeladen, sich einzulassen mit Fragen wie:

  • Was mögen Sie?
  • Was schätzen Sie an dem Klang, Gegenstand usw.?
  • Was schätzen Sie in Ihrer Umgebung, welche Menschen, welche Orte?
  • Was mögen Sie, welche Musik, welches Essen, welche Farben, Gerüche...?
  • Was schätzen Sie an sich?

Wer alten Menschen das Angebot machen will, auch die schmerzhaften Ereignisse im eigenen Leben zu erinnern, muss dies wissen: Für die meisten war es zeitlebens ein Tabu, sich mitzuteilen und über Kriegstraumata oder sexualisierte Gewalt zu sprechen. Zumal in den Kriegs- und Nachkriegszeiten gab es kaum Möglichkeiten, Trost und Gehör zu finden. Wer Not oder Leid erlebt hatte, blieb oft allein. Kinder und Jugendliche wurden außerdem dazu erzogen, keinen Schmerz zu zeigen und keine Hilfe anzunehmen. Viele schämen sich obendrein ihrer Schwächen und ihrer Not.

Das Schweigen war so groß, dass der Zusammenhang zwischen der erlebten Gewalt und den Folgephänomenen nicht gesehen oder erkannt wird. Die Kombination von Tabu, Alleinsein und Scham verstärkt dieses Schweigen. Hier setzt das Wertschätzungstraining an: Mit Hilfe von „harmlosen“ Erinnerungsbrücken wird ein Wiedereintauchen in Gefühle und körperlich-sinnliche Erinnerungen möglich – so behutsam und tröstend es geht.

Vom Köfferchen zum „Affen“…

Zur Grundausstattung der in der Traumawürdigung geschulten Gruppenleitungen gehört das Wissen über den biografisch-historischen Kontext heute alter Menschen. Zur Ausstattung gehört außerdem ein Repertoire an Gegenständen, Musikstücken, die sie in einem „Handwerkskoffer“ mitbringen.

Manches Mal muss der Koffer nicht einmal geöffnet werden: So entwickelte sich in einer Gruppe das Gespräch über den Koffer der Gruppenleiterin zum Austausch über Frauen und ihre Handtaschen und schließlich zur Erinnerung an alte, ausgediente Armeerucksäcke, die die Menschen damals „Affen“ nannten. Mit denen waren sie vielleicht auf der Flucht oder zogen später zum Hamstern über Land. Material, Geruch, Gewicht der „Affen“ wurden erinnert und vielleicht mehr - immer freiwillig und ohne Aufforderung. Das „Leibgedächtnis“ oder auch „implizite Gedächtnis“ wird so aktiviert. Die beteiligten Menschen werden auf einem sinnlich-positiven Pfad zum biografischen Erinnern und Erzählen ermutigt, im geschützten Rahmen einer Gruppe, mit festen Bezugspersonen.

Sie können erfahren, dass das erlebte Leid gehört und mit Interesse und Wertschätzung nachgefragt wird. Ihre Wege, Leid zu bewältigen, erhalten Wertschätzung und werden gewürdigt.

Wer traumatische Gewalterfahrungen gemacht hat, leidet unter einer starken Selbstverunsicherung, niedrigem Selbstwertgefühl und geringer Selbst-Wertschätzung. In der unmittelbaren Gewaltattacke oder bei sexualisierter Gewalt werden Menschen wie Objekte behandelt. Sie konnten nicht fliehen oder kämpfen bei Traumatisierungen z. B. durch Bombardierungen. In der Zeit nach den Traumaerfahrungen blieben sie zumeist allein. Darum lag es nahe, ein Angebot zu entwickeln, das nicht explizit an den Traumatisierungen anknüpft, sondern an dem Wunsch nach größerer Selbstsicherheit. Das kreative Wertschätzungstraining bietet diese Möglichkeiten und zugleich die Chance auf (späten) Trost.

Wertschätzungstraining: Konzept und Angebot auf einen Blick

  • Vier bis acht Gruppentreffen sind bei diesem niedrigschwelligen Gruppenangebot vorgesehen. Zeitumfang: je eine Doppelstunde pro Woche.
  • Das offene Angebot ermutigt zu biografischem Erzählen ohne in irgendeiner Weise zur Aussprache zu verpflichten oder gar durch aktives Ansprechen zu beschämen.
  • Die Teilnehmenden sind alte Menschen, bei denen es Hinweise gibt, dass sie unter Folgen von Kriegstraumata leiden oder die bei sich selbst solche Beobachtungen gemacht haben. Sie erfahren in der Wertschätzungsgruppe, dass ihre Erinnerungen, darunter auch das erlebte Leid, sofern davon erzählt wird, gehört und nachgefragt wird. Ihre Wege, das Leid zu bewältigen erhalten Wertschätzung und werden gewürdigt.
  • Wertschätzungstraining und die Gruppenangebote für ältere Menschen sind Angebote für Einrichtungen, deren gesamte Belegschaft eine erste Schulung zur Traumawürdigung durchlaufen hat. Danach sind Pflegekräfte in der Lage, geeignete Teilnehmerinnen und Teilnehmer für eine Wertschätzungsgruppe aus dem Kreis der Bewohnerinnen und Bewohner vorzuschlagen, weil sie gelernt haben, auf welche biografischen Anhaltspunkte zu achten ist, welches Verhalten oder welche Erzählungen von Bewohnerinnen und Bewohnern Rückschlüsse zulässt.
  • Die Leitung der Gruppen des Wertschätzungstrainings übernehmen Fachkräfte, die in Traumatherapie und -begleitung geschult und gerontospezifisch vorbereitet wurden. Sie sind in der Lage, mögliche Erregungsschübe von Teilnehmenden, wenn über kriegstraumatisches Erleben gesprochen wird, stabilisierend aufzugreifen.
  • Die Fortführung von Wertschätzungsgruppen ist möglich, wenn qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Das Projekt Alter und Trauma bietet entsprechende Qualifizierungen an.

Ausführliche Informationen zum Konzept und zu den Schulungsmöglichkeiten:

Dr. Udo Baer

Projekt Alter und Trauma Rhein-Ruhr im Institut für Soziale Innovationen ISI e.V.

Blumenstr. 54a

47057 Duisburg-Neudorf

Telefon: 0203-363 526 83