Über das Erzählen

Mündliches biographisches Erzählen ist ein sehr differenzierter und vielgestaltiger Prozess, der den sicheren, vertrauensvollen und geschützten Raum benötigt und zum Sprechen ermutigt und einlädt. Traumatische Ereignisse - insbesondere Gewalt, die durch andere Menschen verursacht wurde - sind fast immer mit einer Sprachlosigkeit, einem Verstummen und mit massiven Scham- und Schuldgefühlen der Betroffenen verbunden. Darüber hinaus verletzt erlebte Gewalt auch die eigene Vertrauens- und Bindungsfähigkeit. Für die Frauen und Männer, die vor, während oder kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurden, gab es real keinen Raum für Gespräche über das Erlebte und keine Hilfen in Bezug auf das Thema „Erlebte Gewalt“. Sie konnten sich niemandem anvertrauen.

Viele versuchten allein mit dem Geschehenen zurecht zu kommen und individuelle Lösungen zu finden. Die Mehrzahl der alten Menschen, mit denen wir gesprochen haben, berichtet, dass sie vielfältige Bewältigungsstrategien beim Umgang mit den traumatischen Erlebnissen entwickelt und jahrelang angewandt hat. Die von ISI e.V. Duisburg erarbeitete Ausstellung „Trost 45“ dokumentiert diese Ressourcen und Kompetenzen eindrücklich. In den drei  Erzählcafés, die Wildwasser Bielefeld e.V. anbot, wurden sie beeindruckend offen geschildert.

Altersbedingte Prozesse und damit einhergehende Veränderungen der persönlichen, gesundheitlichen oder sozialen Situation können jedoch dazu führen, dass bisher Hilfreiches nicht mehr angewandt werden kann oder aber seine bisherige Wirksamkeit nicht mehr greift. Lang Verdrängtes oder Unerzähltes kann wieder an die Oberfläche kommen und als sehr präsent und belastend erlebt werden. Hier setzen Unterstützungsangebote an, die auf das Erzählen des Erlebten zielen.

Beim mündlichen Erzählen erleben wir die „sprachliche Vergegenwärtigung zurückliegender Erfahrungen als Weitergabe in Form von Geschichten“ (1). Die mitgeteilten Geschichten sind immer subjektiv. Der Erzählende gibt den Takt vor und bestimmt selbst, „welchen Aspekten meiner Geschichte erlaube ich hier, mitgeteilt zu werden“. Das Verb „erzählen“ beinhaltet das Wort „zählen“ (2) und weist darauf hin, dass dem Gesagten Wert verliehen, dass einem Geschehen oder Erleben eine besondere Bedeutung gegeben wird. Dieses Benennen ist ein aktiver und interaktiver Prozess, für den es notwendig ist ein Gegenüber zu haben, das zuhört, die Bedeutung des Erzählten (an-)erkennt und würdigt und in Resonanz ist, damit ein Gefühl von Gemeinschaft entstehen kann. Darüber hinaus ist es wichtig, eine Wahl haben: Wo möchte oder kann ich etwas erzählen, bei wem fühle ich mich sicher und von wem angenommen?

Eine Wahl zu haben kann beinhalten:

  • Einzelgespräche zu führen, um über Erfahrungen zu sprechen, neue Handlungsstrategien zu erarbeiten, Trost und Unterstützung zu bekommen. Oftmals ist es die Sorge, nahe Angehörige mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen zu belasten oder zu überfordern, die zu der Entscheidung führt, professionelle Hilfe von eher außen stehenden Personen in Anspruch zu nehmen. 
  • Personen aus dem familiären oder nahen Umfeld von der eigenen Lebensgeschichte zu erzählen, da sie als vertraut und zugewandt erlebt werden und die Würdigung von nahe stehenden Menschen als besonders tröstlich erlebt wird.
  • An einer Gruppe teilzunehmen, um mit Anderen, die Ähnliches erlebt haben, in den Austausch zu kommen, von sich zu erzählen und zuzuhören, Expertin oder Experte in eigener Sache zu sein und auch von den Anderen zu lernen.
  • Ein Erzählcafé zu besuchen und so einen öffentlichen, aber dennoch geschützten Raum zu nutzen, in dem es die Möglichkeit gibt, über Erlebtes zu sprechen, Gehör zu finden, Anerkennung und Würdigung des erlebten Leids durch andere Menschen zu erfahren. Die sozialen Kontakte im Rahmen des Erzählcafés und die erfahrene Wertschätzung können zum einen auf der individuellen Ebene neue Lebensqualität bedeuten und zum anderen einer Enttabuisierung. Sie dienen darüber hinaus auch der Wissensvermittlung und Sensibilisierung der (Fach-)Öffentlichkeit. Gleichzeitig wird zu einem Austausch mit Pflegenden, Angehörigen und MitarbeiterInnen des Sozial- und Gesundheitswesens eingeladen, der dazu anregt, Konzepte für die Pflege, Begleitung und Beratung zu entwickeln, die für die alten Menschen mit ihrer Lebensgeschichte hilfreich sind.

Räume zum Erzählen bergen manchmal aber auch Unwägbarkeiten

Erzähl-Räume eröffnen, um bisher „Unerhörtem“ Raum zu geben, bedeutet nicht „schlafende Hunde zu wecken“, mit insistierenden Fragen biographische Aspekte des Leides zu erforschen oder Faktenwissen zu generieren. Hilfreich ist diese Grundhaltung:

Unterstützung zu bieten, wenn zurückliegende Schreckenserfahrungen wieder erwachen und mitgeteilt, erzählt werden wollen. Dabei kann es Situationen geben – und das kennen wir nicht nur aus der Arbeit mit alten Menschen – in denen deutlich wird, dass es kein Erzählen im Sinne eines interaktiven Prozesses ist, sondern dass das Sprechen ein Überflutet-werden von Bildern, Erinnerungen, Gefühlen und Körpererleben in Gang setzt. In der Regel kann am Körperstatus und Habitus erkannt werden, ob jemand im Kontakt ist oder ob die Person überschwemmt wird, bspw. indem sie aus dem Blickkontakt geht, in sich zusammensinkt, den Bodenkontakt unter den Füßen verliert oder als nicht erreichbar erscheint. In so einer Situation geht es darum, den Kontakt wieder herzustellen, Unterbrechungen in der Erzählweise einzuleiten, um wieder in ein gemeinsames Erleben zu kommen.

Kommunikationsräume brauchen somit ein sicheres Gegenüber, das sowohl die eigenen persönlichen oder (arbeits-)kontextbezogenen Grenzen als auch die Grenzen der Erzählerin oder des Erzählers erkennt und wahrt. Es geht oftmals nicht darum, Geschichten in ganzer Länge und bis ins Detail erzählt zu bekommen oder schlimme Schilderungen „auszuhalten“, sondern darum, ein Gegenüber zu sein, das vermittelt „Ich bin da und was Ihnen passiert ist, ist ein großes Unrecht“.

Eine 80jährige Frau aus einer Monheimer-Wertschätzungsgruppe beschreibt die Entlastung, die für sie spät im Leben das Erzählen bedeutete, so: " Erst mal ist es immer gut, sich untereinander zu unterhalten. Und zweitens sind wir jetzt alle in einem Alter, wo man nicht mehr lange da ist. Solche Sachen sollten doch nicht vergessen werden; irgendjemand sollte das wissen und deshalb muss man darüber reden. Wer wollte das bisher hören? Wenn man früher bei Freunden oder in der Familie davon erzählte, wollten die das nicht, die haben immer gesagt: hör auf, vom Mittelalter zu erzählen. Und hier habe ich eine Gruppe gefunden, wo ich reden kann".

In einem gemeinsamen vertrauensvollen, sicheren und grenzwahrenden Rahmen kann das Erzählen dann zu einer heilsamen Erfahrung werden, wie für Frau F., Jg. 1937, die an einer Gesprächsgruppe für ältere Frauen teilnimmt: „Aber ich weiß auch gerade jetzt, wo ich über diese Sache wie es im Krieg war, sprechen kann, merke ich doch, dass es mir jedenfalls ein bisschen besser geht und dass ich ein bisschen mehr zur Ruhe komme. Ja, es flaut nachher etwas ab. Es gibt dann tatsächlich Zeiten, wo ich spüre: „Ach, heute Nacht hast du tatsächlich besser geschlafen.“. Dann merk ich, dass ich dann die Nacht drauf Ruhe kriege. Und dann weiß ich, dass es mir besser danach geht. Das weiß ich. Und dann endlich sagen kann: „Ach Gott, jetzt kann ich’s mal endlich so loslassen wie ich’s möchte!“ (Zum Nachhören).

(1) vgl. Ehlich, 1983, In: Claussen, Claus/ 2006, S. 14 aus http://methodenpool.uni-koeln.de/download/erzaehlung.pdf, Zugriff vom 09.11.2015

(2) „aus dem Ursprung von zählen, althochdeutsch irzellen und mittelhochdeutsch erzel(le)n auch „aufzählen“, https://de.wiktionary.org/wiki/erz%C3%A4hlen, Zugriff vom 09.11.2015