Von der Gratwanderung ein "Opfer" zu sein

Schon der Begriff ist für viele problematisch und umstritten. Denn zwischen der strafrechtlichen Dimension, dem eigenen Erleben und dem Stigma des Opfer-Seins liegen manchmal Welten. Für einen Menschen kann es immens schwierig sein, die eigene „Opferwerdung“ anzuerkennen. Denn sie müssen verarbeiten, dass sie Gewalt erlebt haben, ohnmächtig und ausgeliefert waren. Ohne eine Chance, der Situation zu entkommen oder Hilfe und Zuwendung von Anderen zu erhalten und häufig auch im Nachhinein mit dem Erlebten allein bleiben zu müssen. Fast immer ist diese Erfahrung mit tiefen Gefühlen von Scham und Schuld verbunden, die zur Sprachlosigkeit führen. Viele entscheiden sich, das Schweigen aufrecht zu erhalten, aus der Angst heraus erneut beschämt und beschuldigt zu werden.

Aus rechtlicher Sicht erfasst der Begriff „Opfer“ die Schädigung einer Person und die daraus entstehende gesellschaftliche Pflicht zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter. Das ist nicht nur rechtlich wichtig, sondern hebt vor allem die Schuldlosigkeit der Opfer hervor: Menschen, die zum Beispiel sexualisierte Gewalt erleben mussten, sind Opfer von Verbrechen geworden - einschließlich der daraus resultierenden Folgen.

„...eine Rolle, in die ich mich nicht gefügt habe“

„Die Anteilnahme, die Opfern entgegen gebracht wird, ist trügerisch. Man liebt das Opfer nur, wenn man sich ihm überlegen fühlen kann. (…) Ich freute mich zutiefst über jede ehrliche Anteilnahme und jedes ehrliche Interesse an meiner Person. Aber es wird schwierig, wenn meine Persönlichkeit auf ein hilfsbedürftiges, gebrochenes Mädchen reduziert wird. Das ist eine Rolle, in die ich mich nicht gefügt habe und die ich auch in Zukunft nicht annehmen möchte.“ (Natascha Kampusch, „3096 Tage“, Ullstein Verlag, Berlin, 2010)

Natascha Kampusch, die 3096 Tage in der Gewalt ihres Entführers Wolfgang Přiklopil leben musste, hat die Problematik des Opferbegriffs auf eine beeindruckende Weise reflektiert: Aus dem Unrecht Opfer geworden zu sein entstehen im öffentlichen Raum häufig Zuschreibungen von Rollen und spezifischen Erwartungshaltungen. Opfer werden z.B. als hilflos, gedemütigt, ausgeliefert, schwach, wehrlos, ohnmächtig, beschädigt und verletzt wahrgenommen, und zwar in der Gesamtheit ihrer Person. Und das nicht nur in der tatsächlichen Gewaltsituation, sondern lange darüber hinaus als dauerhafte Zuschreibung.

Wenn sie diesen gesellschaftlichen Bildern jedoch nicht entsprechen, erleben sie häufig Ablehnung, sinkende Anteilnahme oder eine Infragestellung ihrer Glaubwürdigkeit. Laute, empörte Opfer, die das erfahrene Unrecht öffentlich thematisieren oder aktiv Gerechtigkeit einfordern? Diese Option ist in der Opfer-Rolle nicht vorgesehen. Also soll sich die betroffene Person immer wieder als Opfer „präsentieren“, um anerkannt und unterstützt zu werden. Der Weg in die Opferrolle hinein ist klar, der Weg hinaus bleibt unbestimmt.

Tabu und Schweigen

Für die Generation der heute alten Frauen, die sexualisierte (Kriegs-)Gewalt erleben mussten, sind die eigene Opferwerdung und ein Sprechen darüber besonders erschwert:

  • Sexualität, sexuelle Aufklärung und sexuelle Selbstbestimmung wurden in ihrer Sozialisation tabuisiert und waren extrem schambesetzt, so dass es besonders schwierig war und ist, über sexualisierte Gewalterfahrungen zu sprechen.
  • Wenn sie doch darüber gesprochen haben, machten sie die Erfahrung, als „geschändet“, „beschmutzt“ und „zerbrochen“ von ihren Familien, Freunden, Nachbarn entwertet zu werden.
  • Da der Begriff „Opfer“ in der Regel mit Hilflosigkeit, Schwäche oder Passivität der ganzen Person gleichgesetzt wird, birgt er die Gefahr, auf diese Beschreibungen reduziert zu werden. Vergessen wird, dass gerade die Generation der heute alten Frauen während und nach dem Krieg ein besonderes Maß an Stärke, Lebenswillen, Durchhaltevermögen und Aktivität gezeigt hat. Sie hätten sonst die lebensbedrohlichen Umstände nicht überlebt. Innerhalb der gesellschaftlich konstruierten Pole von „stark/schwach“, „aktiv/passiv“ und „beeinträchtigt/lebenstüchtig“ haben viele Frauen aus Selbstschutz ihr Leid verschwiegen.

„...ein Teil von mir, aber nicht alles.“

Trotz aller „Tücken“ des Opferbegriffes: Gewalt erleben zu müssen oder erlebt zu haben ist ein Unrecht. Es nicht als solches zu benennen, würde der Verschleierung einer Straftat und einer Missachtung der Opfer Vorschub leisten. Darum ist es wichtig und sinnvoll, Betroffene klar als Opfer eines Verbrechens zu benennen.

Doch für die Arbeit mit Menschen, die Opfer geworden ist, ist es elementar, sie nicht ausschließlich auf diesen einen Aspekt ihrer Lebensgeschichte oder eine Rolle zu reduzieren:

„Sie ist ein Teil von mir, aber sie ist nicht alles. Es gibt noch so viele Facetten meines Lebens, die ich erleben möchte.“ (Natascha Kampusch, 3096 Tage)