Aus (Flucht)Erfahrungen lernen

Migrations- und Flüchtlingsbewegungen sind in Deutschland nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Fakten und Zahlen zeigen die Kontinuität unfreiwilliger Wanderungen nach und in Deutschland. Deutschland ist ein Flüchtlingsland – schon lange. Ein paar Zahlen und Fakten zur Erinnerung hier im Zeitraffer:

  • Die 30er Jahre: Vertreibung der Juden aus Deutschland; Holocaust mit europaweit 6 Millionen Opfern; Verschleppungen und Vertreibungen von Sinti und Roma, Homosexuellen und anderen.
  • Der 2. Weltkrieg: Millionen Männer werden in den Kriegsdienst eingezogen, Millionen Kriegsgefangene müssen in Deutschland Zwangsarbeit leisten, Millionen Frauen werden zu Arbeiten in die für die Kriegswirtschaft wichtigen Betriebe gezwungen. Mit Beginn der Bombardierungen setzten zwei große Fluchtbewegungen ein: eine organisierte Kinder- oder Frauenlandverschickung in ländliche Gebiete zum Schutz vor Bombardierungen; eine unkontrollierte und unkontrollierbare, in der Millionen Menschen in Panik vor den Bombardierungen quer durch Deutschland fliehen – z.B. nach dem großen »Feuersturm« in Hamburg im Juli 1943 fast eine Million Menschen zum Teil bis Süddeutschland.

 

 

  • Nachkriegszeit: 1947 gab es in Deutschland ca. 4 Millionen »Evakuierte«, die noch nicht in ihre Heimatorte zurückkehren konnten. Die Vertreibungen nach Kriegsende betrafen ca. 14 Millionen Deutsche bis 1950, von denen zwei Drittel in die BRD und ein Drittel in die DDR kamen. Zwei Millionen von ihnen starben. 1945 gab es nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands allein in Deutschland über 1,7 Millionen »displaced persons«, ehemalige Kriegsgefangene, Befreite aus KZs und Gefängnissen, Versteckte und anderweitig »verloren  gegangene« Menschen.
 
  • Flucht aus der DDR und Osteuropa: Zwischen 1949 und 1990 flohen 3,8 Millionen Menschen aus der DDR in die BRD. Davon kehrten 400.000 in die DDR zurück. Nach 1950 kamen zahlreiche Aussiedler/innen, ab 1993 Spätaussiedler genannt, aus Osteuropa, vor allem aus der Sowjetunion und Polen - insgesamt 4,5 Millionen Menschen bis 2005.
  • Asyl: Politische Flüchtlinge und Asylant/innen kamen in mehreren Wellen nach Deutschland: z.B. nach dem Ungarn-Aufstand 1956; z.B. in den 90er-Jahren über 750.000 Flüchtlinge wegen der Bürgerkriege in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien. In der Zeit zwischen 2000 und 2014 schwankten die Zahlen der Asylsuchenden in Deutschland zwischen 30.000 und 220.000 pro Jahr. Abgelehnt wurden zwischen 30 und 67 Prozent der Anträge. Ein Teil der Flüchtlinge erhielt ein begrenztes Bleiberecht.

Deutschland war und ist ein Flüchtlingsland

Die Flüchtlinge und Vertriebenen erlebten oft Unterstützung und Solidarität. Doch ebenso oft begegneten sie dem Gegenteil, wurden (und werden) für die Ursachen eigener Not verantwortlich gemacht: „Wir Bauern haben kein Fett und kein Brot. Flüchtlinge fressen sich dick und fett / und stehlen uns unser letztes Bett.“, heißt es in einem Gebet aus Schwaben Ende der 40er Jahre. Die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen beschreibt die Publizistin Dr. Helga Hirsch so: »Die Zugehörigkeit zur selben Nation erwies sich keineswegs als große Klammer, die zur Herausbildung einer Solidargemeinschaft geführt hätte.Vielmehr beschäftigte keine andere Frage die Nachkriegsgemeinden so sehr wie die nach dem Schutz vor den ›Zumutungen‹ und der ›Überfremdung‹ durch die Flüchtlinge.“

Die Vertriebenen und Flüchtlinge wurden ebenso rassistisch beschimpft und ausgegrenzt, wie Pegida heute gegen Flüchtlinge hetzt. Wenn heute ältere Menschen Angst haben, dass ihnen »die Wohnungen weggenommen« werden, mag das auf die Nachkriegs-Erfahrungen mit Zwangseinquartierungen zurückzuführen sein. Doch viele Vorbehalte von Menschen aus allen Generationen sind auf eine Gemengelage von tieferen Ängsten, Besitzstandswahrung und Abwertungen zurückzuführen. Zu diesen Abwertungen gehört, dass viele Flüchtlinge schon immer als »Wirtschaftsflüchtlinge « diffamiert und ausgegrenzt werden.

»Wirtschaftsflüchtlinge«? - »Politische Flüchtlinge«?

Wer Flüchtlingen genau zuhört, stellt fest, dass es mehr braucht, als nur die Sehnsucht nach „Wohlstand“. Es muss ein Szenario der Hoffnungslosigkeit im Herkunftsland hinzukommen. Wer dort keine Perspektive mehr hat, Arbeit zu finden, eine Familie gründen zu können, seinen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, beginnt über Flucht nachzudenken. Diese Flucht, diese Migrationsbewegung  bedeutet Verlust der Heimat, Abschied von Freunden und Verwandten, das große Risiko zu scheitern oder auf der Flucht zu sterben.

Wenn wir den traumatischen Prozess, in dem sich viele Flüchtlinge befinden, ernst nehmen, verschwimmen die Unterschiede. Denn auch die, die nicht als Asylsuchende und Asylberechtigte anerkannt wurden, können sich in einem traumatischen Prozess befinden.

Leugnen der Traumata und Folgen der Tabuisierung

Im Westen wurde Anfang der 50er-Jahre die Bezeichnung »Flüchtlinge« für die Menschen aus der DDR gesetzlich festgelegt, während alle, die aus den sogenannten Ostgebieten kamen, als »Vertriebene « bezeichnet wurden. In der sowjetischen Besatzungszone und dann der DDR wurden die Vertriebenen und Flüchtlinge anfangs als »Umsiedler«, später als »Neubürger« bezeichnet. Diese Wortschöpfungen sind Ausdruck davon, dass die traumatischen Erfahrungen der meisten Flüchtlinge und Vertriebenen der 40er-, 50er- und 60er-Jahre geleugnet und tabuisiert wurden. Dass es Schuld gab und Not, Tätersein und Opfersein, individuelles Elend und gesellschaftliche Verantwortlichkeit, dass es viele Widersprüche und Widersprüchlichkeiten auszuhalten galt, wurde zu wenig wahrgenommen und gewürdigt. Wir halten dagegen: »Würdigen, was ist«. Weder Schuld und Verbrechen dürfen tabuisiert werden, noch individuelle Angst und Not.

Traumata und Traumafolgen sind intime Erfahrungen, über die Menschen nicht oder nicht gern in der Öffentlichkeit reden. Selbst mit vertrauten Personen darüber sich auszutauschen, setzt nicht nur hohes Vertrauen, sondern auch das Überwinden einer Hemmschwelle voraus. Persönliche wie gesellschaftliche Faktoren bewirkten, dass die Not und der Schmerz der Menschen in den deutschen Flüchtlingsbewegungen verschwiegen, ja tabuisiert wurden - in der Öffentlichkeit und in den Familien. Es gab in „Wirtschaftswunderzeiten“ keine Kultur des Trauerns. Wenn aber Leid nicht benannt werden darf, wenn Schmerzen nicht geteilt werden können, dann ist das Trauern nicht möglich oder eingeschränkt.

Fünf Einsichten: Aus der eigenen Geschichte lernen

Erste Einsicht: Nicht nur Ängste vor dem Islam oder vor Menschen anderer Kulturen und Hautfarben produzieren Ablehnung und Abwehr. Ängste und Abwehr finden immer einen Anlass. Wir sollten tiefer suchen und uns nicht nur mit den Anlässen beschäftigen.

Zweite Einsicht: Die meisten Vertriebenen und Flüchtlinge waren traumatisiert, das Verschweigen dieser Tatsache hat viel Leid hervorgerufen und verstetigt. Es gab und gibt zahlreiche Spätfolgen der Tabuisierung, materielle, seelische und soziale. Darum müssen wir so früh und so gut wie möglich Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten organisieren.

Dritte Einsicht: Die Wurzeln von Ablehnung und Rassismus können manchmal auf eigene Traumatisierungen oder Traumafolgen verweisen, die verdrängt und weitergegeben werden über Generationen; auf individuelle oder gesellschaftliche Schulderfahrungen, die ignoriert und auf »Fremde« projiziert werden; auf das Verdrängen der eigenen Flüchtlingsnot, das empfindungslos werden lässt gegenüber der Not der jetzigen Flüchtlinge.

Vierte Einsicht: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit verändert die Haltung gegenüber Flüchtlingen. Es ist eine enorme Veränderung, dass so viele Menschen Flüchtlinge unterstützen, ihnen helfen – durch Spenden, durch Taten, durch geopferte Urlaubstage, durch tätige Hilfen. Weil sich viele Menschen mit den Folgen der Kriegstraumata in Deutschland beschäftigen, können sie die eigene Geschichte annehmen und die Tatsache, dass Deutschland ein Flüchtlingsland ist. So können sie Mitgefühl für sich empfinden und auch mit den traumatisierten Menschen, die nach Deutschland kommen.

Aber - fünfte Einsicht: Wir beobachten eine Spaltung in der Haltung gegenüber Flüchtlingen - Abwehr und die Ablehnung auf der einen, tätiges Mitgefühl und Willkommen auf der anderen Seite.

Wir können das

Wir sollten würdigen, dass Deutschland ein Flüchtlingsland ist, dass wir mit der Aufnahme, der Integration und Ablehnung schon zahlreiche Erfahrungen gemacht haben, dass es im Umgang mit Flüchtlingen Solidarität gab, aber auch viele Verletzungen, viele Narben. Dann können wir Angst und Verdrängung abbauen und einen würdigenden Umgang mit uns und den Flüchtlingen finden. Würde ist immer eine Begegnung, ein Würdigen anderer Menschen und ein Gewürdigt-Werden durch andere. Viele alte und neue Flüchtlinge haben das große Problem, dass sie sich nicht zugehörig fühlen oder es ihnen schwerfällt, sich zugehörig zu fühlen. Diese Zugehörigkeit gelingt manchmal erst in der zweiten oder dritten Generation, sie ist ein Prozess des Ringens, kann nicht beschlossen oder verkündet werden. Zugehörigkeit wird jeden Tag geschaffen - auf dem Schulhof, am Arbeitsplatz, in der Straßenbahn und an vielen Orten mehr - und nicht im Bundestag beschlossen - auch wenn dort für die gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen gesorgt werden muss.

Wir haben und fordern eine gemeinsame Kultur der Werthaltigkeit menschlichen Lebens und der Achtung der Menschenrechte. Diese Werte gilt es zu schützen, gegen Rassisten, die Flüchtlingsunterkünfte anzünden und auch gegen Flüchtlinge, die andere Flüchtlinge verletzen. Das ist der Maßstab der Integration.

Dieser Text ist eine gekürzte Version des vierten Kapitels des neu erscheinenden Sachbuchs von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer: Flucht und Trauma. Wie wir traumatisierten Flüchtlingen wirksam helfen können. Gütersloher Verlagshaus, April 2016.