Auszug aus der Projektdokumentation:

„Etwas Besseres als den Tod ...“ Suizidalität im Alter: Welche Krisenhilfe ältere Menschen benötigen und wie man sie vor Ort organisiert. Impulse und Praxiserprobungen des Projektes Lebenslinien 2011–2014. S. 25-32.

Hg. Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

Interview: „Hinhören, ohne das Trauma zu beschwören.“

Krise und Suizid im Alter: Niemand spricht gerne darüber, aber wenn, dann wird über Lebensmüdigkeit im Alter und über Selbsttötungen oft in einer bestimmten Form gesprochen – als sei Lebensmüdigkeit unvermeidlich und im Alter nur zu verständlich. Das gilt besonders für die mediale Öffentlichkeit, und umso mehr, wenn es um prominente Menschen und ihren Suizid geht, wie vor ein paar Jahren im Fall Gunter Sachs. Aber auch „ganz normale“ Angehörige reden öffentlich in Zeitungsreportagen oder Interviews über die Begleitung einer Selbsttötung von Mutter oder Vater, meist in der Schweiz mit Hilfe einer der dafür bekannten Organisationen, mit Formulierungen wie „stolz bis zuletzt“ oder „würdevoll und gelassen“. Heroische Bilder, die dennoch verstören, weil es zunehmend nicht um Schwerkranke im Endstadium von Krebs geht, sondern um einfach „nur“ lebensmüde Alte. Die sich niemandem mehr „zumuten“ wollen – auch sich selbst nicht? Oder die verzweifelt sind, weil sie kein Verständnis und keine Hilfe finden für ihre Ängste, ihre Einsamkeit, ihre traumatischen Erinnerungen im Alter?

Es hilft, wenn man sich ein paar Fakten ins Gedächtnis holt: Neun von zehn nach einem Suizidversuch Geretteten, Überlebenden sind erleichtert, noch zu leben. 40 % aller Suizide werden von Menschen über 60 versucht, vor allem von Männern über 70.

Ist Suizid nicht auch ein Akt der Selbstbestimmung? Und im Alter sehr verständlich?

Univ.-Prof. Dr. med. Gereon Heuft: Sich suizidieren zu können, ist eine anthropologische Konstante. Wahrscheinlich sind die Menschen die einzigen Lebewesen auf dieser Erde, die das bewusst tun können. Trotzdem weiß man aus Untersuchungen über Suizidversuche, dass der allergrößte Prozentsatz derjenigen, die einen Suizid überlebt haben, froh ist, dass sie es überlebt haben.

Das heißt: Die philosophische oder ethische Frage, ob es einen selbstbestimmten Bilanzsuizid gibt, ob ich völlig abgeklärt und ohne psychische Problematik über mein Leben nachdenken kann und sagen, ich beende es jetzt – mag es als philosophische Position geben. Aber das hätte dann in der Regel für professionell Helfende keine Relevanz. Weil diejenigen, die eine solche Position beziehen, dies für sich realisieren können.

Wir wissen außerdem, dass sich von denjenigen, die einen Suizidversuch machen, ein ganz hoher Prozentsatz in den Tagen davor an den Hausarzt wendet. Es ist also davon auszugehen, dass in der Regel eine gewisse Ambivalenz besteht. Und wenn es nur 10 % Hoffnung zu 90 % Verzweiflung sind: Viele suchen offenkundig noch einmal das Gespräch. Wenn die abgeklärte Bilanzsuizidalität, wenn es sie denn überhaupt gibt, wie erwähnt keine Aufgabe für die Helfenden ist, dann stellt sich bei zumindest bei den „restlichen 90 %“ die Frage einer vorbeugenden Intervention, weil eine Ambivalenz, im Leben zu bleiben, erkennbar ist.

Es gibt die philosophische Vorstellung, dass nicht nur ganz viele Menschen im Laufe des Lebens in Verzweiflungssituationen kommen, sondern auch, dass viele, gäbe es einen Schalter, mit dem sie schnell vom Leben zum Tod kommen könnten, diesen nutzen würden. Darum ist es ein Akt der Nächstenliebe, Menschen in der Ambivalenz beizustehen und sich dabei zum Leben zu bekennen. Es ist eine Manifestation von Menschlichkeit – wenn wir diese aufgeben, was macht das Menschsein dann noch aus? Das „Verstehen“, gar das Fördern von Suizid im Alter, ist zugespitzt formuliert Abtreibung am Ende des Lebens. Als sei das Leben mit Gebrechen nicht mehr lebenswert, als stünde am Ende der Nützlichkeit nur noch das Verschwinden. Der Mensch setzt sich immer mehr selbst absolut. Aber haben wir uns denn selbst gemacht? Oder sind wir uns geschenkt worden?

Nicht jeder, der im Alter nicht spricht oder sich nicht an Aktivitäten beteiligen will, ist immer gleich therapiebedürftig oder muss ein Problem haben. Darf man im Alter nicht auch mal traurig sein?

Wir haben im Projekt sehr viel Wert darauf gelegt, zwischen Trauer und Depressivität zu unterscheiden. Das Alter ist ein Prozess, bei dem man zu Recht auch Trauer erwarten muss: Die Wahrscheinlichkeit, Partnerverluste zu erleiden, die Wahrscheinlichkeit wichtige Kontexte zu verlieren, die Wahrscheinlichkeit, körperliche Performance zu verlieren – all das sind Anlässe für Trauerprozesse. Auch dies gehört dazu: Wie viele Nachbarn alte Menschen über die Jahre verlieren – schon bevor sie selbst zum Beispiel in eine Senioreneinrichtung umziehen! Man muss sich im mittleren Alter einmal vorstellen, in jedem Jahr stürbe aus dem engeren Freundeskreis ein Mensch! Daraus eine hinreichende Erklärung für den völlig „selbstbestimmten“ Rückzug abzuleiten, geht aber nicht. Weil man es nicht weiß, muss man mit den Menschen reden.

Natürlich gibt es Eigenbrötler, die bereits im gesamten Erwachsenenalter so waren. Die kommen zum Beispiel mit einer Verwitwung oft deutlich besser zurecht als diejenigen, die sehr symbiotisch und in Kommunikation mit ihrem Partner gelebt haben. Diese leiden, wenn sie keinen mehr zum Reden haben. Eigenschaften sind nicht per se im Alter immer problematisch. Sie können durchaus auch zu einer Ressource werden. Und einen Eigenbrötler sollte man auch im Altenheim nicht zu Gruppenaktivitäten zwingen. Höchstens dafür werben, aber nie Druck erzeugen. Man kann vielleicht auch darauf setzen, dass ein anderer Mitbewohner fragt, ob er einmal mitkommen wolle.

Das Thema „Kriegskindheit und Nachkriegskindheit“ scheint ein wichtiges gemeinsames Thema für die jetzige Generation der Alten zu sein. Was belastet die Menschen?

Ein Lebensereignis – sei es Gewalt oder Kriegskindheit – präjudiziert nicht per se für das weitere Leben. Das heißt, wenn ich heute einen 70-jährigen Menschen in einer Krise erlebe, wird er eine komplexe Lebensgeschichte mitbringen, zu der auch eine Kriegskindheit gehören kann. Aber ob das seine jetzige Lebenskrise im Alter erklärt oder ob darüber ein Verständnis gewonnen werden kann, ist offen. Man muss daher grundsätzlich einen individuellen Zugang zum einzelnen Menschen finden, um zu erkennen, was die aktuelle Problematik ausmachen könnte. Suizidalität ist in diesem Zusammenhang eine Engführung von Krise, ein unglücklicher Endpunkt, dessen Auslöser in einer Gewalterfahrung, wie sie eine Kriegskindheit darstellt, liegen kann. Im Projekt Lebenslinien ging es uns neben der Kenntnis der möglichen Auslöser immer darum, den Fokus weiter zu öffnen, das Augenmerk darauf zu richten, wo sich Krisen entwickeln, damit es gar nicht erst zum suizidalen Ereignis kommt.

Das Verständnis von Krise und suizidaler Krise als Zuspitzung ist nicht per se Folge von schwersten Belastungen in der Kriegskindheit. Wenn man die Bedeutung von Kriegskindheit verstehen will, zeigen Untersuchungen, dass es in der deutschen nichtjüdischen Bevölkerung eine Dreiteilung gibt: Ein Drittel gilt als schwer belastet, ein Drittel als mittel belastet und ein Drittel als so gut wie gar nicht belastet.

In der jüdischen deutschen Bevölkerung muss man von einer hundertprozentigen schwersten Belastung ausgehen. Doch nicht alle, die schwerste Belastungen erlebt haben, entwickeln eine Symptomatik, und auch nicht alle entwickeln im Alter eine Symptomatik als Trauma-Reaktivierung im Alter. Allerdings steigt das Risiko einer Trauma-Reaktivierung im Alter mit der Schwere der Belastung, die man damals erlitten hat. Diese kann ebenso in zivilen Zusammenhängen passiert sein, beispielsweise als sexueller Missbrauch in der Herkunftsfamilie ohne Kriegseinwirkung. Die Kriegsbelastungen, darunter schwerste Belastungen, haben sehr viele getroffen, aber es gibt eben auch schwerste Belastungen im zivilen Kontext.

Woran würde ein aufmerksamer Profi merken, dass überhaupt krisenhafte Themen vorliegen? Gäbe es Anzeichen, die mir sagen, ich muss behutsam genauer hinhören?

Ein Mensch kann beispielsweise gegenüber Veränderungen, die gerade der Alterungsprozess mit sich bringt, sehr große Widerstände entwickeln. Er kann den Verlust der körperlichen Kraft als sehr belastend erleben, er kann im Hinblick auf notwendige Veränderungen der Wohnsituation mit Verweigerung reagieren. Dann kann man fragen, woher es kommt, dass er oder sie ein so großes Kontrollbedürfnis hat. Auf diesem Weg erfährt man vielleicht, dass dies mit Flucht und Vertreibung zu tun hat. Und der geplante Umzug vom eigenen Haus in eine andere Wohnform wird dann als ähnlich bedrohlich erlebt: Ich wollte das nicht, aber mein Alterungsprozess zwingt mich dazu, ich bin nicht der Gestalter meines Alters, sondern ich erleide die Veränderung.

Wollen ältere Menschen überhaupt über all ihre Erlebnisse und ihre Verluste reden? Wie bereit sind sie dazu?

Es gibt alle Varianten: Verweigerung, zögerliche Offenheit, Interesse. In der Regel nehmen die Älteren solche Gesprächsangebote den Jüngeren nicht übel. Das ist eher eine Sorge der Helfenden. Es kann aber durchaus sein, dass Ältere „Testfragen“ stellen: Was interessiert Sie das schon? Sie sind doch soviel jünger und haben ein eigenes Leben! oder: Können Sie sich da überhaupt hineinversetzen? Denken Sie nicht gleich, ‚die alte Frau spinnt’?

Mit diesen Testfragen wird die Empathiestabilität getestet – also, ob es eine stabile Basis gibt, aufgrund der ich mich überhaupt öffnen kann. Solchen Fragen kann man professionell unerschrocken begegnen: Ich verstehe Ihre Skepsis, weil ich so viel jünger bin. Ich habe mich mit dem Thema aber beschäftigt, und wenn ich etwas nicht weiß, frage ich Sie. Sie können mir das sicher erklären. Dann merkt der alte Mensch, dass sich sein Gegenüber nicht über ihn erheben will, und kann so am ehesten seine Skepsis überwinden.

Ist die größer gewordene öffentliche Aufmerksamkeit hilfreich für die, die therapeutisch oder pflegerisch tätig sind?

Es ist für die, die professionell mit Älteren arbeiten, hilfreich, wenn sie eine Sensibilität für Lebensgeschichten entwickeln und wissen, dass diese von großer Bedeutung sein können. Da ist es gut, genauer hinzuhören und die richtigen Fragen zu stellen. Allerdings warnen wir Mediziner vor einem Furor, vor Überengagement bei diesem Thema. Es ist nicht professionell, mit Blick auf ein Geburtsdatum aus einem alten Menschen ein Traumaerlebnis quasi „herauszerren“ zu wollen. Man muss auch respektieren, wenn jemand Widerstand zeigt (um sich eventuell vor den überwältigenden Gefühlen zu schützen), und zugleich verstehen können, dass sich hinter dem Widerstand dennoch ein Erlebnis verbergen kann, dass der Mensch weiter unter Kontrolle halten will – auch angesichts der Unkontrolliertheit des Alterungsprozesses.

Wie wirken sich Einsamkeit und Isolation auf Lebenskrisen im Alter aus?

Die zunehmende berufliche Mobilität der erwachsenen Kinder spielt hier eine Rolle, die auch gesellschaftlich gewünscht ist. Zugleich gibt es immer weniger Kinder und auch eine zunehmende Zahl kinderloser Alter. Von Einsamkeit sind statistisch gesehen besonders häufig die Frauen betroffen, die älter werden als die Männer und keine neue Partnerschaft eingehen.

Bei der Gestaltung alternativer Wohnformen sind wir immer noch Entwicklungsland. Und wenn man selber die Vorstellung hat, mit dem Beziehungspool, den man mit 30 Jahren hatte, auch alt zu werden, 80 zu werden, dann erlebt man im Alter praktisch nur Abschiede: Freunde sterben, Kinder und Enkel leben weit entfernt.

Ich muss mich also unter präventiven Gesichtspunkten darauf einstellen, bis ins hohe Alter auch neue Beziehungen einzugehen, eingehen zu müssen. Das haben viele älter Werdende nicht im Blick. Selbst wenn ich in eine altengerechte Wohnung nur einen Stadtteil weiter ziehe, komme ich mit dem Rollator wahrscheinlich nicht mehr in meine alte Straße. Also muss ich mich in der neuen Umgebung umsehen: Wer sind meine Nachbarn? Ich muss neue Kontakte knüpfen. Dabei wirkt sich meine Persönlichkeit aus. Wenn ich immer schon einen Dünkel hatte und nur mit bestimmten Menschen zu tun haben wollte, dann fällt mir das natürlich schwerer. Oder wenn ich nie gut auch einmal Hilfe annehmen konnte, dann wehre ich mich auch gegen notwendige Unterstützungen.

Und es können neue Beziehungen natürlich nicht konkurrieren mit den alten „Sandkastenfreundschaften“.

Diese Vertrautheit kann man nicht wieder herstellen, weil man mit den neuen Kontakten nicht diese lange Geschichte hat. Schade nur, wenn der Wert, den diese neue Beziehung hat, davor komplett verblasst.

An den Modellstandorten gibt es eine weitere Beobachtung: Zu den Kindheitserfahrungen der heute Alten gehört auch ein bestimmtes Erziehungsmuster: „Nimm dich nicht so wichtig, stell dich nicht so an.“

Es gab in dieser Generation für die Kriegs- und Nachkriegskinder sicher nicht viel Raum für Empathie innerhalb der Familien. Das hängt zum einen mit der Notsituation zusammen – man denke nur an die Versorgungssituation nach dem Krieg, den Verlust der Väter oder deren sehr viel spätere Rückkehr aus dem Krieg. Das waren vielfältige Belastungen, für die man damals keine große psychische Unterstützung oder Empathie erwarten konnte. Dazu gehört aber auch die Sozialisation unter nationalsozialistischer Ideologie – mit der Erfahrung fehlender Empathie für „Schwäche“ bei den eigenen Eltern. Das war Teil der Ideologie und Pädagogik: Ein deutscher Junge weint nicht, ist hart wie Kruppstahl. Kinder lässt man auch mal schreien, so haben es die Mütter gelernt. Ein einschlägiges Buch dazu hieß: „Die deutsche Mutter und ihr Kind“.

In diesen Zusammenhang gehört auch: Es gab keine Beratungs- oder Unterstützungsangebote wie heute nach Katastrophen oder Gewalttaten. Man hatte die psychiatrische und medizinische Kompetenz in Deutschland und Österreich in der Nazizeit ausgerottet oder ins Exil gezwungen. Bis weit in die 1960er Jahre hinein gab es daher eigentlich in Krisensituationen nur den „Fürsorger“, der kam, weil man sozial auffällig geworden war. Wohin sollte man sich also wenden? Daraus resultiert eine Untrainiertheit dieser Generation, sich selber aktiv um Psychotherapie zu bemühen. Das wird sich mit der nachfolgenden Generation sicher ändern.

Was hilft Profis und auch Angehörigen, wenn sie erschrecken vor dem, was sie eventuell mit ihren Fragen auslösen?

Ganz wichtig ist z. B. in der Pflege, dass eine Pflegekraft nicht das Gefühl hat, sie müsse unbedingt etwas „machen“. Es geht mehr darum, aus dem Wissen ganz schlichte Alltagsachtsamkeiten abzuleiten. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass jemand in einem Pflegeprozess einfach mehr Kontrolle braucht, dann signalisiere ich: Ich verstehe, dass dies aufgrund Ihrer Lebenssituation nun so ist; wir können aber in aller Ruhe besprechen, welche Möglichkeiten es gibt, dass Sie sich nicht überrollt fühlen. Und man kann dann prüfen, wie sich Abläufe so modifizieren lassen, dass es der Person hilft, ohne für die Institution und ihre Abläufe problematisch zu sein.

Und manchmal muss man es einfach ansprechen: z. B. beim Spritzensetzen darauf hinweisen, dass man versteht, dass diese Form der körperlichen Überwältigung als sehr unangenehm erlebt wird vor dem Hintergrund traumatischer Erfahrungen, aber dennoch notwendig ist, weil das Medikament hilft.

Man kann dem älteren Menschen nicht alles ersparen, aber man kann Empathie zeigen und vielleicht so die Spannung auflösen. Denn Spannung ist im Raum, wenn ein Mensch Widerstände hat, sich sperrt, widersetzt; das kostet Zeit und Nerven, wird aber leichter, wenn man die Situation verbalisiert.

Wo lernt man das?

Wir hoffen, dass es bereits in die Ausbildung der Pflegekräfte einbezogen wird und man es nicht später mühsam nachlernen muss. Bis dahin gehört es in die Fortbildung und zum Beispiel in Fallsupervisionen.

Gehört das Begreifen narzisstischer Kränkungen als mögliche Krisenauslöser im Alter – ein weiteres Thema, das Ihnen wichtig ist – in die Aus- und Fortbildung?

Ich erinnere an die Dreiteilung möglicher Gründe für eine psychische oder psychosomatische Krise im Alter: (1) Es können konflikthafte Belastungen vorliegen, die lange günstig kompensiert waren – oder bereits zu erkennbaren Symptomen im mittleren Erwachsenenalter geführt haben; (2) Es können schwerste Belastungen in der Jugend oder jungen Erwachsenenzeit sofort die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung auslösen oder auch nach 50 Jahren der „Ruhe“ zu einer Trauma-Reaktivierung im Alter durch subjektiv bedrohliche Erfahrungen mit dem körperlichen Altern führen. Und schließlich der dritte Typus (3), den wir neu beschrieben haben: Hier liegt eine relativ unproblematische Entwicklung vor, keine Traumatisierung, ein relativ konfliktfreies oder gut bewältigtes Leben – und dann entwickelt dieser Mensch eine Krise „nur“ aufgrund des Alterungsprozesses. Dieser Typus kannte es nicht, krank, schwach und weniger fit zu sein. Dieser Aktualkonflikt gründet „nur“ in der Auseinandersetzung mit dem Alternsprozess, und dieser Prozess ist per se eine Herausforderung im Alter, die sehr heftig sein kann. Allerdings hat diese Krise eine gute Prognose, weil die Ressourcen eines langen geglückten Lebens natürlich zur Verfügung stehen und es keine festgefahrenen neurotischen Muster gibt. Hier kommt man mit wenigen Therapiestunden oder mit einer psychosomatischen Grundversorgung beim Hausarzt aus, wenn dieser das gelernt hat.

Aber man muss es erkennen können, weil man sonst denjenigen nicht versteht. Dazu reicht es völlig aus, anzusprechen, wie sehr das Älterwerden „nervt“ (kränkt) oder einschränkt. So hat man einen Einstieg an dem Punkt, an dem derjenige mit sich selbst überworfen ist.

Lernt man das bereits in der Ausbildung: Erkennen und darauf eingehen zu können, wenn jemand, der sich zu den fitten Alten rechnete, so einen Einbruch durch Krankheit als belastende Situation erlebt?

Das glaube ich nicht. Diese Konzepte sind noch nicht eingeführt. Wir haben sie 1993 das erste Mal beschrieben. Bis dies aus den Lehrbüchern in die Curricula einfließt, vergeht viel Zeit. Dazu kommt der Widerstand der Jüngeren, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Denn wenn die Auseinandersetzung mit dem Alterungsprozess eine Herausforderung ist, dann kann ich diese nur verstehen und Empathie dafür aufbringen, wenn ich das in mir selber abbilden kann. Das aber macht Angst, weil ich als Jüngerer diese Entwicklungsaufgabe selbst auch noch vor mir habe.

Ich glaube, es gibt noch großen Bedarf an Unterstützung für die Umsetzung bei den Profis. Ob es um Alterungsprozess, Traumata oder das Thema „Kriegskindheit“geht. Darum sollte das Projekt ja vor allem Profis und Angehörige ermutigen. Es hat also einen ganz praktischen Aspekt, den ich sehr reizvoll finde, neben der theoretischen Betrachtung: Wir machen den Profis Mut, dass sie durchaus in der Lage sind zu hilfreicher Intervention. Denn nicht alle Krisen, nicht jede Trauer, nicht jede Wut ist eine behandlungsbedürftige Depression.

Zur Person: Univ.-Prof. Dr. med. Gereon Heuft

Univ.-Prof. Dr. med. Gereon Heuft ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Facharzt für Neurologie und Psychiatrie mit den Bereichsbezeichnungen Psychoanalyse und Klinische Geriatrie. Er ist Lehrstuhlinhaber für Psychosomatik und Psychotherapie sowie ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster. Prof. Dr. Heuft engagiert sich für die Alterspsychotherapie und Gerontopsychosomatik sowie das Thema „Depression und Suizidalität im Alter“. In seiner Klinik werden Menschen ohne Altersbegrenzung bei entsprechender Indikation behandelt.

In das Gesamtprojekt Lebenslinien hat Prof. Dr. Heuft die wissenschaftliche Expertise eingebracht und ist in dieser Funktion an der Evaluation des Projektes und an der Entwicklung des Curriculums maßgeblich beteiligt.

Literaturquellen:

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Herausgeberin:

Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe / Geschäftsbereich Pflege, Alten- und Behindertenarbeit / Wohnen und Beratung in der Behindertenarbeit

Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V.
Friesenring 32/34
48147 Münster

www.diakonie-rwl.de

Die Dokumentation aus dem Jahr 2014 kann hier bestellt bzw. als pdf heruntergeladen werden: http://www.diakonie-rwl.de/index.php/sID/d81874d09fa76fa061c0a375373c0ee4/lan/de