Zwiespältige Gefühle: Scham und Schämen

Scham ist ein natürlicher Affekt, der allerdings in der Altenhilfe, der Beratungsarbeit oder in Schulungen vor allem auf ein schwieriges oder konfliktreiches Gebiet führt: Wenn für eine Frau die Körperpflege kaum auszuhalten ist, ein Mann sich in Grund und Boden schämt, weil ihm das Essen angereicht werden muss oder ein alter Mensch unter keinen Umständen zum Schlafen gehen die Kleidung ausziehen will... ist Vor-Wissen und Aufmerksamkeit zugleich nötig.

Menschen, die über die Maßen schamhaft reagieren, geben ein Signal, dass ihnen etwas oder jemand zu nahe getreten ist. Andauernde, beständig vorhandene Scham kann auf mögliche Verletzungen oder Traumatisierungen hindeuten. Eine aufmerksame Umgebung wird die Zeichen nicht übersehen.

Doch die Scham ist zugleich ein tabuisiertes Gefühl. Wer sie spürt, möchte sie lieber für sich behalten. Wer sie bei anderen wahrnimmt, ist selbst oft peinlich berührt und weiß nicht, wie damit umgehen. Die Scham gehört zu den „unbeliebten“ unter den Gefühlen. Der Moment, in dem die Schamesröte ins Gesicht tritt oder das Gefühl, vor Scham im Erdboden versinken zu müssen, ist jeder und jedem unangenehm vertraut. Sie soll am liebsten „schnell verschwinden“.

Das „peinlich berührt Sein“ in der Scham ist schmerzhaft - auch weil dies in unserer Sprache zusätzlich befördert wird? „Sich schämen“ ist ein reflexives Verb. Wer „sich“ schämt, erlebt das Gefühl in der eigenen Person „verankert“.

Scham ist ein notwendiger Impuls

Die Scham erfüllt jedoch auch einen wichtigen Zweck: Als „Wächterin der Grenzen des Intimen Raums“ (1) ist sie ein hilfreiches soziales Gefühl, das das Selbstwertgefühl reguliert und die Grenzen in Begegnungen mit anderen Menschen beschützt. Eine gesunde Scham ist eine instinktiv angemessene Reaktion, wenn der Intimraum, zu dem auch die Gedanken und Gefühle gehören, bedroht ist oder verletzt wurde.

Schon in der frühen Kommunikation zwischen Kindern und ihren Eltern oder Bezugspersonen entwickeln sich deshalb die Vorläufer dieses schützenden Gefühls: Wenn die Grenzen des Kindes in dieser frühen Beziehung gewahrt werden, kann es eine gesunde Scham entwickeln. Sie wird ihm späteren Leben helfen, die eigenen Grenzen zu kennen und zu beachten und sich der Übergriffe zu erwehren. Wenn jedoch die Grenze des Intimen dauerhaft ignoriert oder verletzt wird, fällt die natürliche Scham der Gewalt zum Opfer.

Hier liegt eine mögliche Erklärung dafür, warum Menschen sich für Dinge schämen, an denen sie unschuldig sind oder für Gewalt, die ihnen durch andere widerfahren ist. Obwohl die Beschämung von außen kommt – schämt sich häufig die oder der Beschämte.

Beschämt werden

Gerade im Falle von sexualisierter Gewalt werden Schamgrenzen gewaltsam übertreten, die oder der Betroffene wird beschämt (2). Die Scham kann als „Wächterin“ die Einhaltung der Grenzen nicht mehr gewährleisten. Wenn wiederholt traumatische Erfahrungen von Beschämung gemacht werden, versucht die Scham über die Übergriffe hinaus mit gesteigerter Aktivität eine Grenze zu ziehen.

So kann es dazu kommen, dass es auch nach dem traumatischen Ereignis immer wieder zu einer Überflutung durch Schamgefühle kommt. Studien belegen dieses Phänomen, indem sie aufzeigen, dass besonders Menschen, die in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfahren haben, häufig von extremen Schamgefühlen betroffen sind.

Täterstrategien bei sexualisierter Gewalt von Kindern und Jugendlichen zielen darauf ab, zu beschämen: Wenn beispielsweise der Täter dem Opfer eine Mitschuld an dem Erlebten gibt, wenn Geschenke nach dem Übergriff an das Kind verteilt werden oder ihm die Verantwortung über den Zusammenhalt der Familie („Wenn du das sagst, bricht unsere Familie auseinander“) gegeben wird, wird das Kind beschämt. Ihm wird eine Bürde auferlegt, die unmöglich zu tragen und zu ertragen ist. Für viele unvorstellbar, übernimmt die/der Betroffene stellvertretend die Schamgefühle des Täters.

Auch Jahre nach dem Übergriff können so massive Schamgefühle bei den Betroffenen vorhanden sein. In der Therapie und Beratung mit Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, erleben wir dies fast täglich: Opfer schämen sich für die Tat des Täters, haben das Gefühl, „geschändet“ zu sein oder ein Schandmal bzw. Stigma behalten zu haben. Beschämung ist also abzugrenzen von dem natürlichen Affekt der Scham.

Scham kommt in allen Kulturen vor

In den unterschiedlichsten Kulturen dient die Scham dazu, Menschen und ihre Verhaltensweisen in die Schranken zu weisen. Unerwünschtes gesellschaftlich unangepasstes Verhalten kann durch den Einsatz von Scham sanktioniert werden. In der Erziehung wird bis heute immer wieder mit den Gefühlen von Scham und Beschämung gearbeitet, wenn beispielsweise Schülerinnen und Schüler zum Schämen in der Ecke des Klassenraums stehen müssen oder ein Kind in einer bekannten TV-Sendung auf die „stille Treppe“ muss, nachdem es vermeintlich unangepasstes Verhalten gezeigt hat. Dabei ist der Umgang mit Scham jeweils stark durch die Zeit und Umgebung, in der man aufwächst, geprägt.

Gesellschaften können in Scham- und Schuldkulturen eingeteilt werden. In Schuldkulturen wird Verhalten durch Schuld und Gewissen reguliert. Als Folge von Fehlverhalten gilt das schlechte Gewissen. In Schamkulturen wirkt dagegen vor allem die öffentliche Wahrnehmung - der gute Ruf -  als höchste Instanz  zur Regulation von Verhaltensweisen. Verstöße gegen den Kodex der Gesellschaft werden hier vor allem durch Beschämung bestraft. Die heute älteren Menschen sind in der „Schamkultur“ der 30er und 40er Jahre erzogen worden.

Schule und Scham in der NS-Zeit und der Nachkriegszeit

Der Sozialwissenschaftler Dr. Stephan Marks vertritt die These, dass das Deutschland im Nationalsozialismus als Schamkultur zu bezeichnen war. Gezeichnet von der Niederlage im ersten Weltkrieg, von Arbeitslosigkeit und Armut wurde Adolf Hitler von vielen als Erlöser von Schamgefühlen beziehungsweise als Wiederhersteller von Ruhm und Ehre angesehen. Die Schamgefühle der Deutschen wurden durch die Nationalsozialisten gezielt instrumentalisiert: Sie beschämten so genannte Minderheiten, Regimegegner, psychisch Kranke oder Menschen mit Beeinträchtigung. Sie idealisierten vermeintlich Gesunde und Starke und das deutsche Volk. Öffentliche Beschämung war eine wesentliche Methode im NS-Regime, wenn beispielsweise orthodoxen Juden der Bart abgeschnitten wurde oder Juden und Jüdinnen mit der Zahnbürste den Rinnstein putzen mussten. Gleichzeitig wurden „weiche Gefühle“, wie Angst, Abhängigkeit oder Liebe verhöhnt und Härte idealisiert, wenn gefordert wurde „hart wie Kruppstahl“ zu sein (3).

Hinsichtlich Scham und Ehre zeigen sich in patriarchalen Scham-Kulturen – wie dem NS-Regime –deutliche Geschlechter-Unterschiede. Hier gilt laut Marks die Ehre des Mannes als verletzt, wenn die Frau „entehrt“ wurde. Ein altes deutsches Sprichwort gibt dieses Verständnis gut wieder: „Der Männer Ehr ist auch der Frauen Ehre, der Frauen Schand’ ist auch der Männer Schande“.

Die sexuelle Aufklärung war in der NS-Zeit rückständig: Sexualität war stark tabuisiert. Über sexualisierte Gewalt wurde nicht öffentlich gesprochen. Wenn Frauen sich trauten mit ihren Männern in der Nachkriegszeit über erfahrene Übergriffe während des Krieges zu reden, stießen sie häufig auf Unverständnis oder Ablehnung. Eine Frau berichtet: „Tante Martha hat mir später erzählt, dass sie das ihrem Mann nicht erzählen konnte, weil er die Einstellung hatte, man könne keine Frau vergewaltigen, die das nicht will“ (4). Oft fühlten sich Männer durch die Vergewaltigungen ihrer Frauen und Töchter entehrt und forderten ihren Freitod oder den gemeinsamen Freitod der ganzen Familie (5). Daher verschwiegen viele Opfer die erlebten Übergriffe auch im privaten Raum aus Scham, Angst vor Verlust des Partners oder vor Ausgrenzung oft jahrelang oder gar dauerhaft.

Scham bei heute älteren Menschen

Die heute alten Frauen und Männer sind geprägt von der „Schamkultur“ der NS-Zeit. Sie regulierte sowohl vermeintliche „Abweichungen von der Norm“ als auch die erfahrene Gewalt durch Beschämung nachhaltig. Gefühle wie Angst, Trauer, Unsicherheit waren und blieben tabuisiert. Ein Sprechen über psychische Probleme galt und gilt als unüblich - z.T. sogar als lebensbedrohlich, wenn man bedenkt, wie viele psychisch kranke Menschen im Zweiten Weltkrieg verfolgt und getötet wurden.

Das Sprechen über sexualisierte Gewalterfahrungen unterliegt immer noch einer besonders starken Tabuisierung. Gleichzeitig sind gerade diese Erfahrungen auch in Friedenszeiten mit besonders starken Schamgefühlen verbunden. Das Schweigegebot der traumatisierten, heute älteren Menschen, machte auch den Austausch unter Betroffenen kaum möglich. Das psychosoziale Versorgungsnetzwerk in der Nachkriegszeit war zudem mit dem heutigen nicht zu vergleichen: Es gab bis in die 70er Jahre keine Selbsthilfegruppen oder Beratungsstellen für die Opfer sexualisierter Gewalt. Die Möglichkeit zur Inanspruchnahme professioneller Hilfen zur Bewältigung der traumatischen Erfahrungen war demnach nicht gegeben.

Auch ein öffentliches Gedenken der Kriegskinder oder der Opfer sexualisierter Gewalt im Zweiten Weltkrieg und somit eine Form der Anerkennung des Leidens der Betroffenen fand nicht statt. Eine öffentliche Anerkennung könnte jedoch ein erster wichtiger Schritt sein, um „schamlos“ über diese wichtigen Themen, die auch heute noch so viele Menschen betreffen, in Austausch zu kommen und Unerhörtem Raum zu geben.

Literaturtipps

  • Baer, Udo/Frick-Baer, Gabriele (2014): Vom Schämen und Beschämt werden. 3. Auflage. Weinheim. Beltz.
  • Immenschuh, Ursula/Marks, Stephan (2014): Scham und Würde in der Pflege. Ein Ratgeber. Frankfurt a.M.: Mabuse.

Zitate

(1) Baer, U./Frick-Baer, G. (2014): Vom Schämen und beschämt werden. 3. Auflage. Weinheim: Beltz.

(2) Baer, U./Frick-Baer, G. (2014): Vom Schämen und beschämt werden. 3. Auflage. Weinheim: Beltz.